Bistum Hildesheim: Wissentlicher Einsatz von Sexualtätern 1993-2009

13. Januar 2012

Wie kann ein pädophiler Pfarrer jahrelang mit seinen Opfern verreisen, sie bei sich übernachten lassen und ihnen teure Geschenke machen? Wie kann es sein, dass seine Vorgesetzten wussten, dass der Pfarrer mit einem Jungen im Urlaub war und mit ihm im selben Bett übernachtet hatte, ohne dass sie Verdacht schöpften, ein psychiatrisches Gutachten einholten oder dem Pfarrer zumindest untersagten, weiter mit Kindern zu verreisen oder sie bei sich übernachten zu lassen?

Wer sich angesichts des Verfahrens gegen den Priester Andreas L. aus dem Bistum Hildesheim diese Fragen stellt, wird sich auch für das Verhalten des Bistums seit 2002 interessieren, als die Deutsche Bischofskonferenz ihre „Leitlinien zum sexuellen Missbrauch“ verabschiedete. Im März 2002 wurde Dr. Michael Lukas Pressesprecher des Bistums Hildesheim, und seitdem erwarb sich das Bistum schnell den Ruf, in Missbrauchsfragen besonders fortschrittlich und offen zu sein. Seit dem Missbrauchsskandal von 2010 ist es allerdings möglich, die damaligen schönen Worte dem tatsächlichen Verhalten der Bistumsleitung gegenüber zu stellen. Dabei kommt man zu folgenden Ergebnissen:

Einsatz von Sexualtätern

Das Bistum Hildesheim hat von 1993 bis Ende 2009 fast durchgängig Priester als Gemeindepfarrer mit Kindern und Jugendlichen arbeiten lassen, ob wohl es von sexuellem Missbrauch durch die betreffenden Priester wusste. Ab 2002 stand deren Einsatz im Gegensatz zu den Leitlinien der Deutschen Bischofskonfrenz, ab 2006 lag die Verantwortung hierfür bei der jetzigen Bistumsleitung: Bischof Norbert Trelle und Personaldezernent Heinz-Günter Bongartz.

Peter R., einer der beiden Haupttäter aus dem Berliner Canisius-Kolleg, war von 1982 bis 2003 im Bistum Hildesheim tätig, das ihn 1995 von den Jesuiten übernahm, obwohl es spätestens seit 1993 von einem Missbrauch durch R. wusste. Nach neuerlichen Vorwürfen wurde R. 1997 zunächst nach Wolfsburg, später nach Hannover-Mühlenberg versetzt, wo er mehrtägige Reisen mit Jugendlichen unternehmen durfte. Die Gemeinden wurden nicht über R.‘s „besondere Problematik“ informiert.

Hermann S., den das Bistum weiterhin als Gemeindepfarrer in Celle-Vorwerk beließ, obwohl es 2003 erfuhr, dass er 1995 einen 12-Jährigen missbraucht hatte. Nach erneuten Vorwürfen 2006 wurde S. aus Celle abgezogen. Von Oktober 2007 bis zum 30. November 2009 – acht Wochen vor dem Missbrauchsskandal 2010 – setzte das Bistum S. als Pfarrer für drei Dörfer im Eichsfeld ein.

Rudolf A. wurde nach einem Missbrauch und anschließender Therapie zwar nicht mehr als Gemeindeleiter eingesetzt, wurde aber in Göttingen mit der Krankenhausseelsorge und Seelsorge in mehreren Gemeinden betraut. Nachdem darüber im Zuge des Missbrauchsskandals berichtet wurde, beurlaubte das Bistum A. zunächst und schickte ihn etwas später in den Vorruhestand. Trotzdem war A. ausweislich eines Pfarrbriefs noch am 7. August 2010 für einen Einschulungsgottesdienst vorgesehen.

Klaus J., ein bekennender Pädophiler, dem man nach eigener Aussage „von Kindern fernhalten muss“, wurde offenbar 1997 noch während seiner Therapie mit Auflagen wieder als Subsidiar (Unterstützungskraft) in einer Gemeinde eingesetzt. Er wohnte dort im Pfarrhaus. Seit 2009 im Ruhestand, ist er noch heute auf der Website der Gemeinde als Unterstützer des Pfarrteams aufgelistet. Bereits in den 60er Jahren war J. als Kaplan zu einem Bußgeld verurteilt worden, nachdem er versucht hatte, Nacktfotos von 13- und 14-Jährigen zu machen. Das Bistum zog ihn daraufhin zwar für einige Monate aus dem Verkehr, danach war J. allerdings 30 Jahre lang in allen erdenklichen Positionen mit Kindern und Jugendlichen tätig – bis 1995 die Pfarrsekretärin bei ihm einen Stapel Kinderpornos fand. Kindesmissbrauch im eigentlichen Sinne hat J. laut eigener Aussage nie begangen.

Gerd E. war über 30 Jahre lang Pfarrer in Wolfsburg. 2010 kam heraus, dass er vor 30 Jahren einen Jugendlichen missbrauchte. Das Bistum will erst 2010 von dem Missbrauch erfahren haben. Allerdings hatte E. zwischenzeitlich eine Therapie gemacht, es besteht also die Möglichkeit, dass das Bistum zumindest von seinen Neigungen gewusst hat. Bistums-Pressesprecher Dr. Lukas teilte mir hierzu mit:

Das Bistum hat erst im Jahr 2010 vom sexuellen Missbrauch durch Pfarrer [E.] erfahren. Alle von ihm wahrgenommenen therapeutischen Hilfen konnten seitens des Bistums darum überhaupt nicht in irgendeinen Zusammenhang von Missbrauch gebracht werden.

Mit dem Missbrauch vielleicht nicht – aber wenn das Bistum (und/oder der Montfortaner-Orden, dem E. angehört) wusste, dass sich E. einer Sexualtherapie unterzog, hätte es den Priester zumindest nicht mehr an einer Grundschule einsetzen und ihm die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verbieten sollen.

Dieser Artikel wird fortgesetzt: Bistum Hildesheim: Schöne, leere Worte.


Experten mit Scheuklappen (2): Was steht in Gutachten über auffällige Priester?

25. Juli 2011

Wie sich die Bilder gleichen: Letztes Jahr musste Heinz-Günter Bongartz einer Gemeinde in Celle Rede und Antwort stehen. Damals war er allerdings noch Domkapitular. Heute ist er Weihbischof. (Screenshot von celleheute.de)

Der Eindruck verstärkt sich, dass die deutschen Bischöfe gerade jene mit der Suche nach Warnzeichen für Kindesmissbrauch beauftragt haben, die diese in der Vergangenheit in abenteuerlicher Weise ignoriert haben.

Gestern hatte ich darauf hingewiesen, dass in der katholischen Kirche der Begriff „pädophil“ in absurd eng gefasster Weise ausgelegt wird – auf diese Weise verschließt man dort die Augen vor offensichtlichen Warnzeichen. Dasselbe gilt für das Kriterium „sexueller Missbrauch“.

Nun habe ich ein aufschlussreiches Beispiel gefunden, in dem der Missbrauchsbeauftragte des Bistums Hildesheim, Heinz-Günter Bongartz, erläutert hat, wie „Pädophilie“ von den Gutachtern, die die Kirche um Rat bittet, definiert wird. oder besser gesagt: Wie Pädophilie nicht definiert wird.

Man beachte, dass es in dem Artikel nicht um den aktuellen Fall des Pfarrers Andreas L. aus Salzgitter geht, der gestanden hat, drei Kinder im Alter von 9 bis 14 viele Male missbraucht zu haben. Der Artikel ist vielmehr aus dem letzten Jahr – damals war bekannt geworden, dass das Bistum Hildesheim in Celle einen erwiesenen Kinderschänder jahrelang weiter in der Gemeindearbeit eingesetzt hatte. Erst, als der Priester gerichtlich verurteilt worden war, hat das Bistum ihn aus dem Dienst genommen.

Bongartz: „Es ist wahr, dass Dechant Spicker 1995 in Ostdeutschland ein Missbrauchsverbrechen begangen hat. Es war eine befreundete Familie, bei der er übernachte hatte. Dabei kam es zu einem Übergriff gegen einen 12-jährigen Jungen. Acht Jahre später [Anmerkung: Also offenbar 2003 – nach Verabschiedung der Missbrauchs-Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz 2002] hat sich die Familie an den Ortsbischof gewandt. Die Familie wünschte ausdrücklich in Gesprächen mit der Bistumsleitung keine strafrechtliche Verfolgung des Falls und wünschte Verschwiegenheit. Das Bistum hat sehr deutlich mit Herrn Spicker gesprochen. Daraufhin ist ein psychologisches Gutachten erstellt worden, dass der Übergriff nicht aus einer pädophilen Neigung heraus geschehen sei.

Es ist außerdem bescheinigt worden, dass ein weiterer Einsatz in der Pfarrgemeinde ausdrücklich ohne Auflage möglich ist. […]

2003 ist von den damals Verantwortlichen entschieden worden, dass Hermann Spicker in der Gemeinde verbleibt.“ [Hervorhebung von mir.]

Ein Schlauberger stellte die berechtigte Frage:

Frage aus dem Publikum: „Kann man das Gutachten einsehen?“

Bongartz: „Wir sollten nicht den gläsernen Menschen produzieren. Bildhaftes Beispiel zur Erklärung des Gutachtens: Wenn ein 50-jähriger Mann auf dem Marcusplatz in Venedig ein 13-jähriges Mädchen sieht und dabei Gefühle bekommt, ist es erst mal keine grundsätzliche pädophile Neigung. Sogar wenn er das Mädchen anfasst, dann ist das in den Augen der Psychologen noch keine Pädophilie.“ [Hervorhebung von mir.]

Soll wohl heißen: „Der tut nichts, der will nur spielen!“

Meine Meinung: Wer solche Gutachten als Rechtfertigung heranzieht, um auffällig gewordene Priester weiter mit Kindern und Jugendlichen einzusetzen, der soll sich doch bitte nicht „entsetzt“ oder „schockiert“ zeigen, wenn bekannt wird, dass der betreffende Priester tatsächlich Kinder missbraucht hat. Er soll dann auch nicht – wie Weihbischof Bongartz – „selbstkritisch“ die Frage stellen, ob „vielleicht“ im Vorfeld „doch nicht genug gehandelt worden“ sei.

Interessant ist auch Bongartz‘ Aussage:

Die deutsche Bischofkonferenz hat 2002 vier der besten Forensiker benannt, um die Kirche zu beraten und Gutachten zu erstellen. Heute sagen wir, dass diese Gutachten wahrscheinlich nicht in der Weise helfen, wie wir ihnen damals vertraut haben.

Die Gutachter, von denen hier die Rede ist – und deren Arbeitsweise Heinz-Günter Bongartz oben erläutert hat –, sind offenbar Prof. Norbert Leygraf (Uniklinik Duisburg-Essen), Prof. Hans-Ludwig Kröber, Max Steller und Renate Volbert (alle Charité Berlin) und Prof. Friedemann Pfäfflin (Uniklinik Ulm). Leygraf, Kröber und Pfäfflin wurden vor kurzem von der Deutschen Bischofskonferenz mit der Untersuchung des Missbrauchs durch Priester in deutschen Diözesen beauftragt:

Das zweite Forschungsprojekt liegt in der Verantwortung von Prof. Dr. med. Norbert Leygraf, Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Universität Essen-Duisburg in Kooperation mit Prof. Dr. med. Hans-Ludwig Kröber (Charité – Universitätsmedizin Berlin) und Prof. Dr. med. Friedemann Pfäfflin (Universitätsklinikum Ulm). Das Projekt „Sexuelle Übergriffe durch Geistliche in der katholischen Kirche Deutschlands – Analyse psychiatrisch-psychologischer Gutachten“ soll mit einer qualitativen und quantitativen Gutachtenanalyse ein umfassendes Bild über Täterpersönlichkeiten ermöglichen. Dabei werden biographische Zusammenhänge sowie die Situation und Abläufe der vorgeworfenen sexuellen Handlungen und Merkmale der Opfer eine Rolle spielen. „Aus den Ergebnissen sollen Prädikatoren für Gefahrenmomente für sexuelle Missbrauchshandlungen identifiziert und Präventions­möglich­keiten abgeleitet werden“, erklärte Prof. Leygraf.

Der Eindruck verstärkt sich, dass hier gerade die mit der Suche nach Warnzeichen beauftragt wurden, die diese in der Vergangenheit in abenteuerlicher Weise ignoriert haben.

Weitere Artikel zum Thema:


Salzgitter: Pädophiler Priester nach kirchlicher Definition „nicht pädophil“

24. Juli 2011

Die von den US-Bischöfen herausgegebene Studie kommt zu dem Ergebnis, nur 5% der beschuldigten Priester seien "pädophil". (S. 3)

Andreas L., der Pfarrer der St.-Joseph-Gemeinde in Salzgitter-Lebenstedt, der gestanden hat, drei Jungen im Alter zwischen 9 und 14 Jahren in einer Vielzahl von Fällen sexuell missbraucht zu haben, würde nach einer von der katholischen Kirche verwendeten Definition nicht als „pädophil“ gelten:

In einer von der US-amerikanischen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen und veröffentlichten Studie wird nämlich folgende Definition verwendet:

For the purpose of this comparison, a pedophile is defined as a priest who had more than one victim, with all victims being age eleven or younger at the time of the offense. [The Causes and Context of Sexual Abuse of Minors by Catholic Priests in the United States, 1950-2010, S. 34]

Auf Deutsch:

Für diesen Vergleich wird ein Pädophiler definiert als ein Priester, der mehr als ein Opfer gehabt hat, wobei alle Opfer zum Tatzeitpunkt elf Jahre alt oder jünger waren.

Andreas L. hat zwar drei Jungen missbraucht, jedoch war offenbar mindestens einer 14 Jahre alt.

Es ist zu vermuten, dass das gleiche Kriterium (oder ein ähnlich eng gefasstes) auch verwendet wurde, als der Vatikan letztes Jahr meldete, dass „nur 10 Prozent“ der des Missbrauchs beschuldigten Priester pädophil seien (ca. 300 von ca. 3.000 Beschuldigten).

Tatsächlich fanden 60 Prozent der (von der obigen Studie betrachteten, die auch den Großteil der vom Vatikan untersuchten Fälle ausmachen dürften) Missbräuche mit Kindern unter 14 Jahren (der üblichen Grenze für Pädophilie) statt:

Alter in Jahren Anzahl der Fälle Prozent der Fälle Prozentualer Anteil kumuliert mit vorherigen Alterstufen
1 4 0,0% 0,0%
2 11 0,1% 0,1%
3 22 0,2% 0,3%
4 41 0,5% 0,8%
5 82 1% 1,8%
6 158 1,8% 3,6%
7 220 2,5% 6,1%
8 369 4,1% 10,2%
9 362 4% 14,2%
10 752 8,4% 22,6%
11 895 10% 32,6%
12 1.323 14,7% 47,2%
13 1.141 12,8% 60%
14 1.188 13,2% 73,2%
15 1.042 11,6% 84,8%
16 769 8,6% 93,4%
17 577 6,5% 100%

Tabelle aus Wikipedia: Sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche

Ob in den deutschen Bistümern — und den von den deutschen Bischöfen beauftragten Experten — die gleiche Definition verwendet wird, wäre zu prüfen.


Salzgitter: Ein Stück aus dem Lehrbuch

23. Juli 2011

Weihbischof Bongartz: "Es gab keinen Verdacht auf sexuellen Missbrauch." – Warnzeichen für die Pädophilie von Pfarrer Andreas L. aber schon.

In Salzgitter im Bistum Hildesheim kommt derzeit mal wieder ein Fall ans Licht, der das Vorgehen der katholischen Kirche beim Verdacht auf Pädophilie lehrbuchmäßig aufzeigt.

Priester, denen „offiziell“ Pädophilie bestätigt wurde, sind für die katholische Kirche teuer: Sie müssen nämlich weiter bezahlt werden, können aber nicht mehr auf normalen Pfarrstellen eingesetzt werden: (Noch dazu in Zeiten des Priestermangels.) Außerdem muss ggf. noch die Therapie bezahlt werden.

Es besteht also ein Anreiz für die kirchlichen Verantwortlichen, auffällige Priester, soweit irgend möglich, nicht als „pädophil“ einzustufen. In diesem Zusammenhang wurde in der katholischen Kirche bisher so verfahren:

Statt dem Kriterium „Pädophilie“ wird das – enger gefasste! – Kriterium des „sexuellen Missbrauchs“ angelegt. Dieser ist strafbar und macht sich an (eindeutig) sexuellen Handlungen fest. Manfred Lütz, Berater der deutschen Bischöfe in Sachen Missbrauch, hat dies ja letztes Jahr quasi in eigener Sache selbst deutlich gemacht. Folgende Beispielfälle kommen mir sofort in den Sinn:

Pater G. aus Ettal (2005)

2005 hatten sich Schüler im Internat Ettal beschwert, dass Pater G. einen von ihnen unter dem T-Shirt gestreichelt hatte – angeblich, um den weinenden Schüler zu trösten. Auf Lütz‘ Anraten hin erstellte Prof. Friedemann Pfäfflin ein Gutachten, das dem Pater – Lütz zufolge – „Heterosexualität“ bescheinigte. Lütz:

Das Gutachten war eindeutig: Es lag noch nicht einmal der Verdacht auf sexuellen Missbrauch vor, keine Pädophilie, auch sonst keine Diagnose und daher keine Notwendigkeit für eine Therapie. Pater G. habe seine Probleme mit Nähe und Distanz bereits gut reflektiert und könne in der Seelsorge, sogar langfristig in der Jugendarbeit, selbst ohne Teameinbindung eingesetzt werden.

Lütz zitiert Prof. Pfäfflin mit den Worten:

„Der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs war damals von keiner Seite erhoben worden. Auch bei der Begutachtung durch mich fanden sich diesbezüglich keine Anhaltspunkte. Das in Ihrem Fax von gestern geschilderte Vorgehen halte ich, um Ihre Frage zu beantworten, für angemessen und in Übereinstimmung mit den Vorschlägen in meinem Gutachten.“

Diesen Januar wurde gegen Pater G. Anklage erhoben:

Die Vorwürfe gegen Pater G. sind inzwischen so verdichtet, dass die Münchner Justiz Anklage gegen den Mönch wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern erhob. Wie es heißt, habe er unter anderem einen 13 Jahren alten Schüler in Ettal gestreichelt.

Zu derartigen Vorwürfen hatte Lütz letztes Jahr geschrieben:

[Es] ist neuerdings von zwei Schülern behauptet worden, zwei andere Schüler seien von Pater G. unter der Unterhose an den Genitalien berührt worden. Da der Ermittler zugleich mitteilte, dass Pater G. ausweislich des Gutachtens heterosexuell sei, erscheint allein deshalb die Beschuldigung nicht wahrscheinlich. [Hervorhebung von mir.]

Pfarrer Georg K. aus Willingen bzw. Lobberich (~2004)

Über Pfarrer Georg K. wurde berichtet:

In seinen Gemeinden am Niederrhein war K. diverse Male aufgefallen, weil er allein mit Minderjährigen auf Reisen ging, minderjährige Ministranten in seine private Sauna und zu Festen ins Pfarrhaus geladen oder zum gemeinsamen Duschen aufgefordert hatte. 2004 wäre es beinahe zum öffentlichen Eklat gekommen, als K. sein jugendliches Patenkind während einer Feier derart intensiv gestreichelt hatte, dass einige Teilnehmer der Feier sich über den Pfarrer beschwerten.

Der Pfarrgemeinderat von K.s damaliger Pfarre will sich daran erinnern, die Bistumszentrale in Aachen über die Besuche der Ministranten in der Pfarrhaussauna informiert zu haben. Josef Heinrichs jedoch, Sprecher des Bistums, erklärte am Freitag auf Anfrage dieser Zeitung, in Bezug auf Pfarrer K. habe man lediglich einen anonymen Hinweis erhalten, und zwar 2003. «Aber anonymen Hinweisen kann man nicht nachgehen», erklärte Heinrichs. [Hervorhebungen von mir.]

Georg K. wird mittlerweile in Südafrika wegen Kindesmissbrauch der Prozess gemacht – 2007 hatte er dort die deutsche Gemeinde in Johannesburg übernommen. Auch die Krefelder Staatsanwaltschaft hat kürzlich einen internationalen Haftbefehl gegen K. erwirkt. Sie wirft ihm sexuellen Missbrauch in 37 Fällen vor.

Interessant wäre in diesem Fall, zu erfahren, ob Prof. Norbert Leygraf – der jetzt auch die von den deutschen Bischöfen in Auftrag gegebene Untersuchung „Sexuelle Übergriffe durch Geistliche in der katholischen Kirche Deutschlands – Analyse psychiatrisch-psychologischer Gutachten“ leitet, Georg K. begutachtet hat. Jedenfalls erwähnte Prof. Leygraf letztes Jahr auf einer Pressekonferenz, dass er einen Geistlichen begutachtet hat, bei dem Saunabesuche mit Jugendlichen Misstrauen erregt hatten – und in diesem Fall offenbar keine strafrechtliche Relevanz festgestellt hat. Prof. Leygraf begutachtet seit 2003 auffällig gewordene Priester für die katholische Kirche, und die Pfarrei von Georg K. ist keine Autostunde von Leygrafs Institut entfernt.

Pfarrer Andreas L. aus Salzgitter-Lebenstedt (2006)

Andreas L. hatte zweimal mit einem Jungen zusammen in einem Bett übernachtet. Nachdem sich die Eltern beschwert hatten, verboten seine Vorgesetzten ihm den Kontakt mit dem Jungen. Auch nachdem L. kürzlich gegen das Kontaktverbot verstoßen hatte, sah man beim Bistum Hildesheim offenbar keinen Grund, L. nicht mit einer Jugendgruppe nach Taizé (Frankreich) fahren zu lassen. Weihbischof Bongartz wies in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hin, dass es keine Beschuldigung sexuellen Missbrauchs gegeben habe:

„Zunächst ist es so, dass wir in den vergangenen Jahren im Kontext dieses Vorgangs mit sexuellem Missbrauch in keiner Weise zunächst erst mal konfrontiert worden sind. Die Frage, ob es sich hier um sexuellen Missbrauch handeln könnte, haben wir im Jahre 2010 noch einmal auch mit der Staatsanwaltschaft abgeklärt, und dort ist uns nochmal auch eindeutig und unmissverständlich versichert worden, dass nach den jetzigen Angaben, die wir damals machen konnten, und den Tatsachen, die uns da bekannt waren, es keinen Grund für einen Anfangsverdacht gibt.

[…] In all diesen Kontexten ist dann allerdings, und das muss ich nochmal ausdrücklich betonen, nie von irgendwelchen sexuellen Übergriffen die Rede gewesen. […]

Es ist so, dass in diesem Fall des mutmaßlichen Opfers es bislang auch seitens der Familie immer auch uns gegenüber geheißen hat, von sexuellem Missbrauch redet man nicht.“

Weihbischof Heinz-Günter Bongartz im NDR, 19.07.2011

„Aber es hat auch bis vor drei Wochen auch in diesem Gespräch mit eben halt dem Pfarrer hier vor Ort keine Gründe gegeben für uns, sexuellen Missbrauch zu phantasieren und ihm vorzuwerfen. […] Um sicher zu sein, ist das was hier eben halt vorliegt, so zu beurteilen, dass es nicht unter sexuellem Missbrauch eben halt auch firmieren kann. Das ist uns von der Staatsanwaltschaft mitgeteilt worden, dass das was dort an Vorkommnissen gewesen ist, was ich so in meiner Funktion als Priester nicht billigen würde, aber nicht ausreicht, um einen Verdacht sexuellen Missbrauchs aufzustellen.“

Weihbischof Heinz-Günter Bongartz im NDR, 19.07.2011

Es ist natürlich das gute Recht von Weihbischof Bongartz, darauf hinzuweisen, dass dem Pfarrer bisher (Bongartz zufolge) kein strafbares Verhalten vorgeworfen wurde. Das Problem des „sexuellen“ Kriteriums, dass in den oben genannten Fällen angelegt wurde, ist vielmehr, dass Pädophile sich gar nicht „sexuell“ betätigen müssen, um sich zu befriedigen:

Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht bei der Pädophilie die primäre sexuelle Ausrichtung auf Kinder. Diese ist nicht zwingend koital ausgeprägt; Pädophile können bereits durch Situationen erregt und befriedigt werden, in denen kein Körperkontakt zu einem Kind besteht. Bei Situationen mit Körperkontakt kann bereits das Berühren des Kindes allein als erregend empfunden werden, ohne dass diese Berührungen im Genitalbereich stattfinden müssen. Der Wunsch nach dem Vollzug des Koitus mit dem Kind scheint bei Pädophilen seltener anzutreffen zu sein.[27]

Neben dem sexuellen Interesse ist bei Pädophilen ein Bedürfnis nach emotionaler Nähe zu Kindern festzustellen. Viele Pädophile verlieben sich in Kinder und wünschen sich echte wechselseitige Liebesbeziehungen zu Kindern.[30][31] […] Überproportional viele Pädophile arbeiten in entsprechenden Berufen, z. B. als Erzieher oder in der Jugendbetreuung, um Umgang mit Kindern zu haben. [Wikipedia, Hervorhebung von mir.]

Es ist daher völlig verfehlt, wenn die katholische Kirche als Kriterium für ihre Personalentscheidungen die Strafbarkeit heranzieht statt der Hinweise auf Pädophilie.

Im Mai wurde in den USA die von der dortigen Bischofskonferenz beauftragte Studie „The Causes and Context of Sexual Abuse of Minors by Catholic Priests in the United States, 1950-2010“ veröffentlicht. Darin heißt es:

It was common for abusive priests to create opportunities to be alone with minors, for example, during retreats. These men often integrated themselves into the families of the victims. [Executive Summary, S. 5]

Auf Deutsch: “Für Priester, die Minderjährige missbraucht haben, war es gängige Praxis, Gelegenheiten zu schaffen, um mit Minderjährigen allein zu sein – beispielsweise auf ‚Einkehrtagen‘. Diese Männer integrierten sich oft in die Familien der Opfer. Auch später in der Studie werden soziale Kontakte zu den Familien der Opfer als Merkmal straffälliger Priester erwähnt (S. 54). Auf S. 74 heißt es:

Einige Priester entwickelten Beziehungen mit bestimmten Familien in der Gemeinde und entwickelten eine persönliche Verbundenheit mit diesen Familien (z.B. verreisten sie mit ihnen, kamen dort zum Essen, übernachteten dort).

Dieses Wissen und dem Umstand vor Augen, dass das Bistum Hildesheim bereits vor einigen Jahren einen „Beraterstab“ zum sexuellen Missbrauch bildete (dessen Mitglied Weihbischof Bongartz ist), erscheinen die folgenden Ausführungen reichlich naiv, die Bongartz noch vor ein paar Tagen machte:

„Also, diese Hinweise, die dort auch noch mal 2010 an die Staatsanwaltschaft gegeben worden sind, haben sich auf ein freundschaftliches Verhältnis des Pfarrers zu dieser Familie bezogen, das vor 2006 lag. Im Jahre 2006, als es in dieser Familie den Wunsch gab, doch ein distanzierteres Verhältnis zu dem Pfarrer einzunehmen, hat es von unserer Seite aus eine Ansage gegeben an den Pfarrer, dieses Verhältnis nicht mehr weiterhin zu leben. Das ist dann auch erfolgt, und wir haben dem Pfarrer klare Auflagen gemacht, an die er sich auch gehalten hat – bis vor drei Wochen, wo er nochmal versucht hat, mit dem Jungen Kontakt aufzunehmen und wir ihn erneut darauf hingewiesen haben, dass er das zu unterlassen habe.“ [Hervorhebung von mir.]

Weihbischof Heinz-Günter Bongartz im NDR, 19.07.2011

Mit anderen Worten: Pfarrer Andreas L. hat

  • ein „freundschaftliches Verhältnis“ zu der Familie des Jungen unterhalten
  • regelmäßig Jugendreisen geleitet
  • zweimal mit dem Jungen in einem Bett geschlafen
  • Das Bistum sah sich genötigt, ein Kontaktverbot auszusprechen.
  • Gegen dieses Kontaktverbot hat Pfarrer L. verstoßen.

Trotz dieser deutlichen Warnzeichen weist Bongartz immer nur darauf hin, dass er nichts von „sexuellen“ Übergriffen gewusst habe – und ignoriert das Thema „Pädophilie“ völlig.

Das Problem hierbei ist, dass offenbar der gefährliche Umkehrschluss gezogen wird: Wenn der Beschuldigte nicht straffällig geworden ist (also kein sexueller Übergriff), dann sei er auch ungefährlich. Oder wie anders ist es zu erklären, dass Pater G. bescheinigt wurde, er könne „langfristig in der Jugendarbeit, selbst ohne Teameinbindung eingesetzt werden“ (s.o.)? Dass Georg K. trotz Ministranten in seiner Privatsauna und aufsehenerregenden Streichelns weiter mit Kindern eingesetzt wurde? Dass Prof. Leygraf „Misstrauen erregende Saunabesuche mit Minderjährigen“ offenbar als Beispiel für einen unbegründeten Verdacht brachte? Dass Andreas L. trotz mehrfachen Schlafens im Bett eines Jungen und Verstoß gegen das Kontaktverbot weiter mit Jugendlichen verreisen durfte? Alles übrigens Fälle nach der Verabschiedung der bischöflichen Leitlinien zum sexuellen Missbrauch 2002, der Salzgitter-Fall sogar nach Verabschiedung der überarbeiteten Leitlinien 2010.

Im aktuellen Fall von Andreas L. sagte dazu der Sprecher des Bistums Hildesheim, Dr. Michael Lukas:

So wirkt es zumindest unglücklich, dass der Pfarrer weiter mit Jugendlichen verreisen durfte. „Was hätten wir tun sollen?“, fragt Lukas, „auf welcher Faktenbasis hätten wir ihm das verbieten sollen?“ [SPIEGEL ONLINE]

Das klang freilich letztes Jahr noch ganz anders, als Prof. Leygraf und Dr. Lütz auf einer Pressekonferenz bei der Frühjahrsvollversammlung der deutschen Bischöfe den anwesenden Journalisten erklärten, die Leitlinien müssten „offenbar funktionieren“ (Leygraf). Und weiter:

„Der Umgang der Kirche mit diesen Fällen ist doch sehr sorgfältig und fast schon etwas übervorsichtig“, sagt Leygraf.

Und Dr. Lütz erklärte:

Wenn ein Gutachter zum Ergebnis komme, dass von einem Geistlichen keine Gefahr ausgehe, sei der Bischof damit noch nicht aus der Verantwortung entlassen, betont Lütz. „Der Bischof muss strenger sein als das Gutachten.“ Aber er sagt auch: „Das kommt nicht selten vor.“ [Hervorhebung von mir.]

Also: Als letztes Jahr der Kirche vorgeworfen wurde, sie täte nicht genug, um Missbräuche zu verhindern oder aufzuklären, da hieß es, der Umgang der Kirche mit diesen Fällen sei „doch sehr sorgfältig und geradezu übervorsichtig“, und der Bischof müsse „strenger sein als das Gutachten“ – auch, wenn letzteres die Ungefährlichkeit eines Geistlichen bescheinige. Doch dieses Jahr – nach der Verschärfung der bischöflichen Leitlinien – als mal wieder ein mehrfacher Missbrauchsfall ans Licht kommt, da kriegt man gesagt: „Was hätten wir tun sollen?“ und „Auf welcher Faktenbasis hätten wir ihm das verbieten sollen?“ – Seitdem ist eine Woche vergangen, ohne dass die deutschen Bischöfe dem Hildesheimer Bistumssprecher widersprochen hätten.

Die Bischöfe gefährden mit diesem systematischen Wegschauen nicht nur die ihnen anvertrauten Kinder – sie verletzen m.E. auch die Fürsorgepflicht gegenüber den Priestern. Wenn pädophile Priester wissen, dass sie praktisch gefahrlos

  • Kinder unter der Kleidung streicheln,
  • mit Messdienern in die Pfarrhaussauna gehen und
  • mit Kindern im selben Bett schlafen können,

dann ist das so, als würde man einen Alkoholiker als Barkeeper anstellen und ihm sagen, er solle beim Trinken „seine Grenzen kennen“.


Experten mit Scheuklappen (1): Prof. Christian Pfeiffer

22. Juli 2011

Prof. Christian Pfeiffer, der von den deutschen Bischöfen mit einer Untersuchung beauftragt wurde, u.a. Einflussfaktoren zum sexuellen Missbrauch zu erfassen, zeigt sich geradezu sträflich blind für offensichtliche Zusammenhänge, die er selbst erläutert.

Die deutschen Bischöfe haben Forschungsprojekte zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Bereich der deutschen Diözesen in Auftrag gegeben – „ehrliche Aufklärung, frei von falscher Rücksichtnahme” durch „unabhängige Experten“.

Ich hatte ja neulich schon darauf hingewiesen, dass die drei federführenden Experten – Prof. Norbert Leygraf, Prof. Christian Pfeiffer und Prof. Hans-Ludwig Kröber – in der Vergangenheit mit Statements an die Öffentlichkeit getreten sind, die den Eindruck erwecken, dass diese Herren zugunsten der Kirche auch mal die intellektuelle Redlichkeit hintanstellen.

Anlässlich des jetzt bekannt gewordenen Falls des Pfarrers Andreas L. aus Salzgitter, der in den letzten Jahren mindestens drei Jugendliche missbraucht hat, hat Prof. Pfeiffer jetzt noch einmal nachgelegt und unter Beweis gestellt, dass er zugunsten der katholischen Kirche durchaus auch das Gegenteil des Offensichtlichen insinuiert. Pfeiffers 90 Sekunden-Auftritt im NDR vom 18. Juli 2011 muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Vor dem großen Finale allerdings ein paar Anmerkungen am Rande:

Pfeiffer hatte zugunsten der Kirche ja letztes Jahr schon darauf hingewiesen, dass nur 0,1 Prozent der seit 1995 des Missbrauchs Beschuldigten Priester seien. In dem besagten NDR-Interview liefert ihm die Moderatorin nicht nur eine Steilvorlage, um diesen Sachverhalt noch einmal zu wiederholen – sie weist auch gleich noch einmal selbst darauf hin, dass der Großteil der Beschuldigten keine Priester seien:

Moderatorin: Nun hört man ja viel von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche – wie häufig sind diese Fälle eigentlich, auf den gesamten Missbrauch sozusagen gesehen?

Prof. Christian Pfeiffer: In den letzten 15 Jahren ganze 0,1 Prozent aller bekannt gewordenen Fälle sind Priestern zuzurechnen. Es mag sein, dass die seltener angezeigt werden, von daher machen wir ja diese Riesenforschung – um rauszufinden, wie es im Dunkelfeld der nicht angezeigten Fälle aussieht. Aber trotzdem: Es würde mich überraschen, wenn der Anteil der Priester über 1 Prozent läge.

Moderatorin: Das heißt also 99 Prozent werden tatsächlich woanders begangen?

Prof. Christian Pfeiffer: Richtig. Aber die Bevölkerung glaubt, jeder dritte Fall ist ein Priester – weil es uns so entsetzt, und weil dann intensiv berichtet wird. Dadurch entsteht der falsche Eindruck, die Kirche würde einen ganz großen Anteil des Missbrauchs zu verantworten haben – was sicherlich nicht stimmt.

Wieder blendet Prof. Pfeiffer den Umstand aus, dass der Anteil der Priester an der in Frage kommenden Bevölkerungsgruppe unter 0,1 Prozent liegen dürfte und Priester somit im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil überproportional stark in der Statistik vertreten sind. Ich hatte ja letztes Jahr einen Priesteranteil von 0,066 Prozent geschätzt, was bedeutet, dass Priester 1,5 mal häufiger verdächtigt werden, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Bei einem Anteil von 1 Prozent an den Tätern, wie Pfeiffer ihn als Obergrenze nennt, wären sie sogar 15 mal häufiger übergriffig, als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprechen würde.

Das besondere öffentliche Interesse an den Priestern ist also durchaus berechtigt. Für besorgte Eltern kommt noch hinzu, dass die Frage, ob man sein Kind einem Geistlichen oder einer kirchlichen Einrichtung anvertraut, selbst entschieden werden kann und deshalb von größerem Interesse ist als der Großteil der Missbräuche, die in der Familie vorkommen und denen deshalb nicht so einfach vorgebeugt werden kann wie einem Missbrauch durch Geistliche.

Im Einklang mit den übrigen Kirchen-Fürsprechern ignoriert Prof. Pfeiffer auch, dass die öffentliche Empörung über die Missbräuche gerade in kirchlichen Einrichtungen wohl weniger die Missbräuche selbst betrifft als vielmehr den Umstand, dass die katholische Kirche damit jahrzehntelang und weltweit äußerst nachlässig umgegangen ist – gelinde gesagt.

Pfeiffer sagt aber auch etwas (für deutsche Verhältnisse) Neues:

Moderatorin: Gibt es eigentlich Strukturen in der katholischen Kirche, die diese Fälle forcieren – also die das begünstigen?

Prof. Christian Pfeiffer: Möglicherweise hat früher Zölibat eine gewichtige Rolle gespielt, aber in den USA haben wir einen Rückgang auf ein Viertel des früheren Umfangs, obwohl Zölibat unverändert weiter gegolten hat, weil in der Gesellschaft Liberalität im Umgang mit Sexualität immer ausgeprägter ist, und dann muss man sich nicht mehr an Kindern vergreifen, wenn man schon gegen Zölibat verstoßen will.

Pfeiffer zufolge ist also der sexuelle Missbrauch von Minderjährigen deshalb massiv zurückgegangen, weil es den Priestern durch die zunehmende Liberalisierung heute möglich sei, mit Erwachsenen Sex zu haben. (Soll wohl heißen: Es stört sich heute keiner mehr daran, wenn ein Priester eine Geliebte oder einen Geliebten hat – sofern er das nicht an die große Glocke hängt.) Anders ausgedrückt: Der Zölibat ist kein Problem, wenn man ihn nicht ernst nimmt. Daraus kann man aber nur den Schluss ziehen, dass der Zölibat eben doch massiv zum Missbrauch von Kindern beigetragen hat. (In Pfeiffers Worten: „Möglicherweise früher“.) Glaubt Prof. Pfeiffer, dass sich heute kein Priester mehr „ersatzweise“ an Kindern vergreift? Ab wie vielen „ersatzweise“ missbrauchten Kindern würde Prof. Pfeiffer den Zölibat als problematisch sehen? 10? 100? 1000?

Pfeiffers Aussage ist schon allein deshalb infam, weil die sexuelle Liberalisierung wohl in erster Linie in westlichen Ländern stattgefunden haben dürfte. Ich nehme mal an, in osteuropäischen, asiatischen und afrikanischen Ländern dürfte die von Pfeiffer angesprochene Liberalität noch deutlich hinterherhinken, was Pfeiffers eigener Statistik zufolge mit einem erhöhten „ersatzweisen“ Kindesmissbrauch einhergehen dürfte – und zwar heute noch!

Für deutsche Eltern ist dies auch deshalb von Interesse, weil der Anteil ausländischer Priester in deutschen Diözesen bereits bis zu 15 Prozent beträgt. Da mindestens die Hälfte der deutschen Priester über 60 Jahre alt sein dürfte und die ausländischen Priester jünger, dürfte der Anteil der ausländischen Priester in der normalen Gemeindearbeit bis zu einem Drittel betragen. Davon kommt fast ein Drittel aus Indien, ein weiteres Viertel aus Polen, 10 Prozent aus Afrika. Ob die von Prof. Pfeiffer angeführte „Liberalität im Umgang mit Sexualität“ dort auch schon so weit fortgeschritten ist?

Derlei Spekulationen sind allerdings müßig, denn Prof. Pfeiffer hatte sich zuvor bereits selbst widerlegt. Unmittelbar vor dem obigen Austausch sagte er nämlich folgendes:

Moderatorin: Herr Pfeiffer, jetzt kommen ja noch aktuelle Fälle dazu. Ist jetzt dieser Fall typisch?

Prof. Christian Pfeiffer: Er ist insoweit nicht typisch, als die meisten Täter, die im letzten Jahr bekannt geworden sind, sich eher ersatzweise an den Kindern vergriffen haben, nicht unbedingt Pädophile sind. Nach allem, was wir bisher wissen. Und hier scheint es sich doch klar um jemanden zu handeln, der fixiert ist auf Kinder.

Mit anderen Worten: Prof. Pfeiffer zufolge waren die meisten Täter, die im letzten Jahr bekannt geworden sind, gar nicht auf Kinder fixiert, sondern haben sich ersatzweise an ihnen vergriffen. Das steht aber in direktem Gegensatz zu seinem Statement gleich darauf, wo er sagt:

„[Heute] muss man sich nicht mehr an Kindern vergreifen, wenn man schon gegen Zölibat verstoßen will.“

Aus dem von Prof. Pfeiffer angeführten Rückgang des Kindesmissbrauchs im Zuge der sexuellen Liberalisierung in den USA ergibt sich, dass der Zölibat tatsächlich ersatzweisen Missbrauch fördert, und dementsprechend in Ländern, die weniger liberal sind, nach wie vor zu Kindesmissbräuchen führen dürfte. Und Pfeiffer sagt selbst, dass die meisten Täter sich ersatzweise an Kindern vergriffen haben. Trotzdem antwortet er auf die Frage nach missbrauchsfördernden Strukturen in der katholischen Kirche:

Möglicherweise hat früher Zölibat eine gewichtige Rolle gespielt, aber […] weil in der Gesellschaft Liberalität im Umgang mit Sexualität immer ausgeprägter ist, […] muss man sich nicht mehr an Kindern vergreifen, wenn man schon gegen Zölibat verstoßen will.

Drei Fragen, drei Antworten:

  • Pädophilie ist „nicht typisch“ für Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche
  • Der Zölibat ist (zumindest heute) kein Grund mehr für Missbrauch
  • Der Anteil der Priester an der Gesamtzahl der Täter ist verschwindend gering

Das hätte der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz auch nicht besser vermitteln können. Das Problem ist nur:

  • Punkt eins ist reine Wortklauberei: Welche Unterschied macht es, ob ein Kind von einem Pädophilen oder „nur ersatzweise“ missbraucht wird?
  • Punkt zwei dürfte schlicht und ergreifend falsch sein – Pfeiffers eigenen Informationen zufolge.
  • Punkt drei übersieht geflissentlich, dass Priester vermutlich überdurchschnittlich oft auffällig werden.

Das ist der „Experte“, der das Forschungsprojekt „Der sexuelle Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ leiten soll. Unter anderem mit dem Ziel „die Bedeutung der Einflussfaktoren zu erfassen, die ihre Taten gefördert haben.“

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Hier das von mir transkribierte Interview:
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