Spaemann: „Menschenwürde durch europäische Zivilisation bedroht“

28. Mai 2010

„Si tacuisses, philosophus mansisses“ („Wenn du geschwiegen hättest, wärest du ein Philosoph geblieben“) – es gibt meines Erachtens niemanden, auf den dieser Spruch so gut – und so oft! – zutrifft wie auf Robert Spaemann. Spaemann, der meint, Gott per Grammatik beweisen zu können, erklärte kürzlich:

„Durch keine Zivilisation ist die Menschenwürde so bedroht wie durch die europäische“ […]. Der Grund liege darin, dass die europäische eine wissenschaftliche Zivilisation sei, die den Menschen „strikt objektiviert, ihn analysiert und nicht als Subjekt wahrnimmt“. [kathweb]

Leider schweigt sich der Artikel darüber aus, ob Spaemann sich auch dazu geäußert hat, welche Länder bzw. Zivilisationen die Menschenwürde weniger schlimm bedrohen. Auch wäre es interessant zu erfahren, welchen Platz im Spaemann-Ranking Länder wie Saudi-Arabien, Iran, China oder Nordkorea einnehmen – offenbar alles Gesellschaften, die für die Menschenwürde weniger bedrohlich sind als Europa.

Man achte auch auf die Begründung: Grund für die Bedrohung ist Spaemann zufolge die Wissenschaftlichkeit und Objektivität, die die europäische Zivilisation auszeichnet. Im Gegensatz zu Spaemanns „Logik“ bedeutet das freilich keineswegs, dass der Mensch nicht trotzdem als Subjekt wahrgenommen werden kann. (Man kann z.B. jemanden lieben und gleichzeitig „wissenschaftlich-objektiv“ im Auge behalten, dass es keine gute Idee wäre, wenn dieser Mensch vor ein fahrendes Auto läuft.)

Spaemann lehnt sich m.E. auch sehr weit aus dem Fenster, da er als Hardcore-Katholik einem Weltbild anhängt, das den Menschen als von Natur aus „sündhaft“ ansieht und dessen Lebenszweck vor allem anderen darin besteht, Jesus als „HERRN“ (im Sinne der damaligen Verhältnisse Sklave/Untertan vs. Herr/Herrscher) anzunehmen, wobei dieser HERR (Gott) den Menschen jeglicher Willkür wie z.B. Krankheit, Schicksalsschlägen usw. aussetzen kann, ohne dass dies kritisiert oder infrage gestellt werden darf. Es ist nicht einzusehen, wieso eine demokratische Zivilisation wie die europäische die Menschenwürde stärker bedrohen sollte als solch eine vordemokratische Ideologie.

Dass Spaemann („europäische Zivilisation ist die größte Bedrohung für die Menschenwürde“) und Joseph Ratzinger/Papst Benedikt („Benutzung von Kondomen verschlimmert AIDS-Problem“) als katholische Vorzeige-Intellektuelle gelten – mehr braucht man über den Katholizismus eigentlich nicht zu wissen.


Christliche Witzfiguren

15. Februar 2010

Die Kirche von England hat eine Erklärung verabschiedet, in der behauptet (nicht belegt!) wird, dass der Glaube an Gott – gemeint ist offensichtlich der „anglikanische“ Gott – und die Naturwissenschaften miteinander kompatibel seien. Die Erklärung richtet sich gegen atheistische Wissenschaftler wie Richard Dawkins, die – das wirft ihnen die Kirche vor – den Glauben als „plumpe Karikatur“ darstellen, der „blind und irrational sei“.

Der Vorwurf, Dawkins würde gegen „Strohmänner“ argumentieren – also Vorstellungen oder Argumente, die Christen heute gar nicht (mehr) so vertreten würden, scheint mir in der Tat einer der häufigsten Vorwürfe gegen Dawkins zu sein.

Aber wenn Dawkins tatsächlich nur gegen „Windmühlen“ ankämpft: Wie kommt es dann, dass – jedenfalls soweit ich das beurteilen kann – seine Gegner ihm immer gerade mit den Argumenten zu kommen scheinen, die er in seinem Buch „Der Gotteswahn“ bereits widerlegt hat? (Hier reicht es sogar aus zu sagen: besprochen hat.) Siehe z.B. Robert Spaemann und Manfred Lütz, bei denen ich schon vor einiger Zeit darauf hinwies, dass ihre exakte Argumentation in „Der Gotteswahn“ bereits behandelt wurde.

Wenn Dawkins‘ Darstellung des christlichen Standpunkts eine „plumpe Karikatur“ sein soll, sich seine Gegner aber gerade der von Dawkins besprochenen Argumente bedienen – dann muss es sich bei Dawkins‘ Kritikern offenbar um Witzfiguren handeln.

Ach so: Und da religiöser Glaube per Definition irrational ist – ansonsten würde man ihn nämlich nicht als Glaube bezeichnen (bei der Evolutions- oder Relativitätstheorie hingegen spricht man nicht von „Glauben“, bzw. tun das nur christliche Apologeten) – und sich die Church of England demgegenüber offensichtlich blind stellt, beweist sie mit ihrer Aktion nur, was sie bestreiten will.

Hinweis: Die Church of England hat hier und hier Hintergrundinformationen zu der Erklärung. Mir kam’s vor wie Geschwafel, aber wer will, kann sich’s ja durchlesen (auf Englisch).


Manfred Lütz und das perfekte Verbrechen

30. Dezember 2009

Veganer: Gut ohne Gott (Teil 1)

Durch ein Interview mit Peter Singer und Richard Dawkins angeregt, wollte ich hier etwas zu zum perfekten Verbrechen und Veganismus schreiben. Dazu mehr in Teil 2.

Zunächst musste ich feststellen, dass die (sinngemäße) Frage: „Würden Sie ein Verbrechen begehen, wenn Sie genau wüssten, dass sie nicht erwischt werden?“ (perfektes Verbrechen) derzeit vor allem von Manfred Lütz thematisiert wird. Z.B. hier:

Liebe Hörerinnen und Hörer, warum überfallen Sie eigentlich keine Bank, wenn Sie sicher sein können, dass sie nicht erwischt werden?

Warum soll ich keine Bank überfallen, wenn ich sicher bin, dass ich nicht erwischt werde?

„Wenn es keinen Gott gibt und man nicht erwischt wird, gibt es keinen Grund, die Bank nicht zu überfallen.“

Lütz‘ dümmstmögliche Argumentation

Die Frage, ob man das perfekte Verbrechen begehen würde, wenn man die Gelegenheit dazu hätte, ist durchaus interessant. Bei Lütz ist sie allerdings lediglich der Ausgangspunkt für die dümmstmögliche Argumentation, die ich mir vorstellen kann:

Lütz behauptet nämlich mit Verweis auf Kant und Dostojewski, dass es nur dann vernünftig sei, das perfekte Verbrechen nicht zu begehen, wenn es einen Gott gäbe. Diese Argumentation scheitert auf mehreren Ebenen gleichzeitig, daher „dümmstmögliche Argumentation“. Nur drei Punkte dazu:

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Malaysia im Härtetest: Gibt es „The God Delusion“?

25. Dezember 2009

Nachdem sich während meines dreitägigen Aufenthaltes in Malaysia die Religionspolizei nicht hatte blicken lassen, alle möglichen Tempel und Kirchen existierten und überall Weihnachtsmusik gespielt wurde (am Flughafen in Penang verkaufte sogar jemand Holzschnitzereien vom „Letzten Abendmahl“ und es waren offizielle Weihnachtsgrüße aufgehängt) startete ich am letzten Nachmittag den ultimativen Härtetest für den islamischen Staat: Würde es in einer Buchhandlung Richard Dawkins „Der Gotteswahn“ (The God Delusion) geben?

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Ex-Bundespräsident Herzog: Die Menschenrechte in den Zehn Geboten

14. Dezember 2009

„Lesen Sie die Zehn Gebote und Sie stoßen unweigerlich auf die Menschenrechte.“ Leben, Familie, Eigentum, Würde – der Schutz all jener liege schon in den biblischen Gesetzen begründet, erklärte der ehemalige Bundespräsident Deutschlands, Roman Herzog, am vergangenen Wochenende auf der Tagung „Christliche Quellen freiheitlicher Systeme“ des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU (EAK) und der Jungen Union (JU) in Rheinland-Pfalz.  Die Bibel sei „die geistige Grundlage weiter Teile unseres verfassungspolitischen Denkens“, sagte Herzog. [Quelle: Christliches Medienmagazin pro]

Ich lese die Zehn Gebote und stoße unweigerlich auf Menschenrechtsverletzungen: Keine Religionsfreiheit (Gebote 1 und 2), Sippenhaft (2. Mose 20,5: „Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen„), Bild der Frau als Sache (2. Mose 20,17: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.„).

Unmittelbar nach den Zehn Geboten folgen in 2. Mose 21 die Vorschriften für den Umgang mit Sklaven (z.B. 2. Mose 21,7: „Verkauft jemand seine Tochter als Sklavin, so darf sie nicht freigelassen werden wie die Sklaven.„), Todesstrafe (z.B. 2. Mose 21,15: „Wer Vater oder Mutter flucht, der soll des Todes sterben.„), Gottesurteile per Losentscheid (2. Mose 22,8) sowie die Todesstrafe für Hexen, Sodomie und Götzenanbetung (2. Mose 22,17-19) .

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Allmächtiger Pragmatiker?

7. Dezember 2009

Ich würde ehrlich viel lieber auf Angela Merkel oder Ursula von der Leyen rumhacken als auf Andrea Nahles (und sei es auch nur, weil ich von ihr zuwenig weiß), aber ihr folgendes Soundbite aus dem gestrigen Interview in der Bild am Sonntag erschien mir auch noch erwähnenswert:

Gott ist ein Pragmatiker. Hätte er vor 2000 Jahren eine Frau geschickt, wäre niemand gefolgt. Heute würde er vielleicht eine Frau schicken . . . (lacht)

Eine durchaus sympathische Idee. Ich halte sie allerdings für nicht vereinbar mit der Idee von Gottes Allmächtigkeit. An die Frau Nahles als „bekennende Katholikin“ zweifellos glaubt, heißt es doch bereits in der ersten Zeile des apostolischen Glaubensbekenntnisses:

Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen,

Pragmatismus – in politischer Hinsicht – würde ich als „die Kunst des Machbaren“ bezeichnen. Ein Pragmatist (bei den Grünen früher „Realo“ genannt) würde sich auf das Erreichbare konzentrieren und sich damit „zufriedengeben“ – nach dem Motto: „Besser als Nichts!“ Im Gegensatz dazu würde ein „Idealo“ auf dem theoretisch Optimalen bestehen und dadurch u.U. den  Fortschritt ganzlich verhindern, nach quasi dem Motto „Alles oder Nichts!“

Wenn man tatsächlich an die Allacht Gottes glaubt, macht es keinen Sinn, ihn als Pragmatiker zu bezeichnen. Pragmatismus ist ja gerade ein Verhalten angesichts von Unmöglichkeiten und Un-Machbarem. Für einen allmächtigen Gott kann sich diese Problematik nicht stellen.

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Gotteswahn: Andrea Nahles, mächtigste Frau der SPD

6. Dezember 2009

Andrea Nahles, Generalsekretärin und damit „mächtigste Frau“ der SPD, hat der Bild am Sonntag ein Interview gegeben: „Vielleicht würde Gott heute eine Frau schicken…„.

[BamS:] Die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem gilt vielen als naiver Kinderglaube. Ihnen auch?

[Nahles:] Mit Ochs und Esel habe ich nichts am Hut. Doch wir Christen feiern am 24. Dezember einen ganz besonderen Geburtstag: In keiner anderen Religion gibt es diese verrückte und gleichzeitig wunderbare Vorstellung, dass Gott freiwillig Mensch wird.

Stöhn! Auf der Frage nach dem „naiven Kinderglauben“ distanziert sich die mächtigste Frau der SPD von Ochs und Esel, preist aber eine „wunderbare Vorstellung“, die sie selbst als „verrückt“ bezeichnet. Die Idee, dass ein allmächtiger Gott Mensch wird, um sich selbst ein Menschenopfer zu bringen, nur, damit er den anderen Menschen vergeben kann, ist in der Tat hochgradig absurd.

Es muss Sorge machen, wenn die wichtigsten Politiker eines Landes erklären können, dass sie an Verrücktheiten glauben, ohne dass nachgefragt wird, und ohne dass sie selbst die Brisanz solcher Aussagen erkennen. Da hat Richard Dawkins völlig Recht! Damit aber noch nicht genug: Den Rest des Beitrags lesen »


Gotteswahn: US-Amerikaner beschneidet und erstickt Säugling

4. Dezember 2009

PZ Myers kommentiert einen unappetitlichen Fall aus den USA: Ein Mann erstickte den Behörden zufolge seinen neun Monate alten Sohn mit einem Mantel, als dieser nicht einschlafen wollte. Nachdem seine Frau das blau angelaufene Kind gefunden hatte, versuchten beide zwanzig Minuten lang vergeblich, ihn wiederzubeleben.

Anschließend wickelte die Frau das tote Baby in eine Decke und fuhr zum Haus ihres Pastors, wo schließlich jemand den Norarzt rief.

Auf die Frage, weshalb die Frau nicht gleich zum Krankenhaus gefahren sei, antwortete die zuständige Ermittlerin, das Paar habe angedeutet, dass sie glaubten, der Pastor könnte dem Kind wieder Leben einhauchen. Dem Pastor zufolge hatte die Leichenstarre bereits eingesetzt, als er das Baby untersuchte.

Schlimm genug, aber jetzt kommt der Hammer:

Während der Anhörung stellte sich heraus, dass der Mann, Samuel McGehee, bereits im März letzten Jahres versucht hatte, seinen anderen Sohn mit einem Steakmesser zu beschneiden. Der Grund: Er war in Sorge um die finanzielle Situation der Familie.

McGehee hatte zunächst mehrere Ärzte konsultiert, die es jedoch alle ablehnten, den damals drei Monate alten Sohn zu beschneiden, bevor er mindestens neun Monate alt war. Als Grund, so gab ein Polizist zu Protokoll, verwiesen die Ärzte gegenüber McGehee unter anderem auf das Risiko starker Blutungen.

Bei der missglückten Beschneidung wurde der Penis des Jungen schwer verletzt und auch der Hodensack beschädigt. Nach 30 Minuten brachten die Eltern das Kind ins Krankenhaus, weil sie die Blutungen nicht stoppen konnten. Seitdem musste sich der Junge umfangreichen Operationen zur Wiederherstellung unterziehen und wird dies auch zukünftig noch tun müssen.

Zu der Frage, weshalb McGehee wegen dieses Vorfalls damals nicht strafrechtlich belangt wurde, wollte der Staatsanwalt nicht Stellung nehmen.


Spürbarer Einfluss der „Neuen Atheisten“?

29. November 2009

Als ich mir neulich die Kirchenaustrittsstatistiken ansah, fiel mir folgendes auf: Seit Anfang der 1990er Jahre sind die Kirchenaustritte bis 2006 ziemlich kontinuierlich zurückgegangen. 2007 stiegen die Austrittszahlen dann wieder an (um ca. 9%), und 2008 schossen sie dann quasi noch einmal um weitere 25% in die Höhe. Wie ist das zu erklären?

Nun, 2007 könnte die Erhöhung der Mehrwertsteuer für manchen ein Anlass gewesen sein, aus der Kirche auszutreten, um wenigstens bei der Kirchensteuer zu sparen. Was aber erklärt den starken Anstieg in 2008? (2009 dürften die Austrittszahlen auf einem ähnlichen Niveau liegen, d.h. kein weiterer Anstieg.)

Die einzige Erklärung, die mir bisher dazu in den Sinn kam, ist der Umstand, dass Ende 2007 die Bücher der drei bekanntesten „Neuen Atheisten“ auf den deutschen Markt kamen: Im September „Der Gotteswahn“ von Richard Dawkins und „Das Ende des Glaubens“ von Sam Harris, und im Oktober „Der Herr ist kein Hirte“ von Christopher Hitchens. Diesen wurde ja beachtliche Aufmerksamkeit zuteil, die sich u.a. in zahllosen „Gegen-Büchern“, aber auch Fernsehdiskussionen niederschlug, vom Internet ganz zu schweigen.

Papst Benedikt XVI. ist ja auch immer gut darin, Anlässe für Kirchenaustritte zu liefern, aber seine Entscheidung bzgl. der Pius-Brüder schlug erst dieses Jahr Wellen – also 2009.

Damit besteht meine einzige Erklärung für den deutlichen Anstieg der Kirchenaustritte ab 2008 in der Diskussion um die „Neuen Atheisten“. Damit meine ich nicht nur die Bücher, sondern natürlich auch die Diskussion darum, Internet-Aktivitäten, nicht zuletzt auch Arbeit der Giordano-Bruno-Stiftung. Es würde auch erklären, weshalb der „Hauptgegner“ der Kirchen nunmehr der Atheismus zu sein scheint, während dieser noch vor zehn, zwanzig Jahren kaum beachtet wurde und stattdessen „Sekten“ von den Kirchen als „Buhmann“ aufgebaut wurden.

Kennt jemand eine andere Erklärung für den Anstieg der Kirchenaustritte in 2008?


Der Rheinische Merkur interviewte einen Papst-Berater, und alles was sie kriegten war dieses lausige Argument

14. November 2009

Der Rheinische Merkur bringt diese Woche ein Interview mit dem Philosophen und Papst-Berater Robert Spaemann. Dabei geht es auch um das Buch „Der Gotteswahn“ von Richard Dawkins.

RM: Der Glaube an einen Schöpfergott ist also durchaus vereinbar mit der Evolutionstheorie?

Spaemann: Ein Gottesargument ist die Evolutionstheorie selbst. Wir glauben zu wissen, wie der Mensch im Laufe der Jahrmillionen entstanden ist. Dann taucht die Frage auf, wie es kommt, dass ein vollkommen bedingtes materielles Wesen in sich den Gedanken von Unbedingtheit, von Wahrheit und von dem in sich Guten hat. Ich denke an Maximilian Kolbe, der im KZ sein Leben opfert für einen Familienvater, der am Leben bleibt, weil Kolbe stellvertretend für ihn in den Tod geht. […] Die Evolutionsbiologen haben dafür keine Erklärung. Das ist ein Sprung. Eine plausible Erklärung gibt es nur dann dafür, wenn man einen Schöpfergott annimmt, der die ganze Evolution in Gang gesetzt hat.

Man fragt sich, ob Spaemann Dawkins tatsächlich gelesen hat. In „Der Gotteswahn“ geht Dawkins in den Kapiteln „Die Wurzeln der Religion“ und „Die Wurzeln der Moral: Warum sind wir gut?“ auf 90 Seiten darauf ein, wie Evolution, wie „das egoistische Gen“ – ein Begriff, den Dawkins selbst geprägt hat – altruistisches Verhalten hervorbringen kann.
 
Ich versuche es kürzer zu machen: Als hätter er Spaemanns Kolbe-Beispiel vorhergesehen, zeigt Dawkins zunächst anhand des „Selbstmords“ von Motten, die in offene Flammen fliegen, dass offensichtlich unvorteilhaftes Verhalten eine „Nebenwirkung“ ursprünglich nützlicher „Faustregeln“ sein kann. (Bei den Motten ist dies die Regel, immer im gleichen Winkel zu einer Lichtquelle zu fliegen. Über Jahrmillionen gab es nur den Mond und Sterne als Lichtquellen – die sind so weit weg, dass die Motte bei Anwendung dieser Regel geradeaus fliegt. Das Aufkommen von künstlichen Lichtquellen in „jüngerer“ Zeit führt dazu, dass die Motte bei Anwendung dieser Regel spiralförmig in die Lichtquelle fliegt.)
 
Als nächstes weist Dawkins darauf hin, dass das „egoistische“ Gen seinen Träger durchaus zu altruistischem, also uneigennützigem Verhalten programmieren kann. Er nennt das Beispiel, dass Eltern für ihre Kinder sorgen oder Verwandten einen Gefallen zu tun. Diese sind ja mit hoher wahrscheinlichkeit Träger derselben Gene.
 
Außer diesem „genetischen“ Grund für Altruismus nennt Dawkins noch vier weitere Gründe für selbstloses Verhalten. Es reicht hier aber, sich zu vergegenwärtigen, dass Menschen über zigtausende von Jahren in relativ kleinen Gruppen zusammengelebt haben, und dass altruistisches Verhalten dabei aus genetischen oder sozialen Gründen vorteilhaft war. Der Umstand, dass Menschen heute in Städten leben, „wo sie nicht ihre Verwandten um sich haben und jeden Tag mit Personen zusammentreffen, die sie nie wieder sehen“, ist aus Sicht der Evolution erst vor so kurzer Zeitaufgetreten, dass die unbewussten „Faustregeln“ – sei gegenüber Deinen Mitmenschen selbstlos – immer noch wirken. So wie bei der Motte.
 
Es stimmt also nicht, wenn Spaemann behauptet, Evolutionsbiologen hätten keine Erklärung für Verhalten wie das von Pater Kolbe. Einmal mehr wird Richard Dawkins mit einem „Argument“ kritisiert, das er in „Der Gotteswahn“ bereits widerlegt hat.
 
Übrigens: Selbst, wenn es wahr wäre, dass es (noch) keine wissenschaftliche Erklärung für, nun ja, irgend etwas gäbe, so lässt sich daraus doch nie und nimmer der Schluss ziehen, Gott müsse dahinter stecken. Und selbst wenn – welcher Gott sollte das sein? Wotan? Zeus? – Spaemann präsentiert hier das Argument des „Lückenbüßer-Gottes“ („god of the gaps“) – viel Spaß damit! Rückzugsgefechte aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse sind vorprogrammiert.

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