Experten mit Scheuklappen (2): Was steht in Gutachten über auffällige Priester?

Wie sich die Bilder gleichen: Letztes Jahr musste Heinz-Günter Bongartz einer Gemeinde in Celle Rede und Antwort stehen. Damals war er allerdings noch Domkapitular. Heute ist er Weihbischof. (Screenshot von celleheute.de)

Der Eindruck verstärkt sich, dass die deutschen Bischöfe gerade jene mit der Suche nach Warnzeichen für Kindesmissbrauch beauftragt haben, die diese in der Vergangenheit in abenteuerlicher Weise ignoriert haben.

Gestern hatte ich darauf hingewiesen, dass in der katholischen Kirche der Begriff „pädophil“ in absurd eng gefasster Weise ausgelegt wird – auf diese Weise verschließt man dort die Augen vor offensichtlichen Warnzeichen. Dasselbe gilt für das Kriterium „sexueller Missbrauch“.

Nun habe ich ein aufschlussreiches Beispiel gefunden, in dem der Missbrauchsbeauftragte des Bistums Hildesheim, Heinz-Günter Bongartz, erläutert hat, wie „Pädophilie“ von den Gutachtern, die die Kirche um Rat bittet, definiert wird. oder besser gesagt: Wie Pädophilie nicht definiert wird.

Man beachte, dass es in dem Artikel nicht um den aktuellen Fall des Pfarrers Andreas L. aus Salzgitter geht, der gestanden hat, drei Kinder im Alter von 9 bis 14 viele Male missbraucht zu haben. Der Artikel ist vielmehr aus dem letzten Jahr – damals war bekannt geworden, dass das Bistum Hildesheim in Celle einen erwiesenen Kinderschänder jahrelang weiter in der Gemeindearbeit eingesetzt hatte. Erst, als der Priester gerichtlich verurteilt worden war, hat das Bistum ihn aus dem Dienst genommen.

Bongartz: „Es ist wahr, dass Dechant Spicker 1995 in Ostdeutschland ein Missbrauchsverbrechen begangen hat. Es war eine befreundete Familie, bei der er übernachte hatte. Dabei kam es zu einem Übergriff gegen einen 12-jährigen Jungen. Acht Jahre später [Anmerkung: Also offenbar 2003 – nach Verabschiedung der Missbrauchs-Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz 2002] hat sich die Familie an den Ortsbischof gewandt. Die Familie wünschte ausdrücklich in Gesprächen mit der Bistumsleitung keine strafrechtliche Verfolgung des Falls und wünschte Verschwiegenheit. Das Bistum hat sehr deutlich mit Herrn Spicker gesprochen. Daraufhin ist ein psychologisches Gutachten erstellt worden, dass der Übergriff nicht aus einer pädophilen Neigung heraus geschehen sei.

Es ist außerdem bescheinigt worden, dass ein weiterer Einsatz in der Pfarrgemeinde ausdrücklich ohne Auflage möglich ist. […]

2003 ist von den damals Verantwortlichen entschieden worden, dass Hermann Spicker in der Gemeinde verbleibt.“ [Hervorhebung von mir.]

Ein Schlauberger stellte die berechtigte Frage:

Frage aus dem Publikum: „Kann man das Gutachten einsehen?“

Bongartz: „Wir sollten nicht den gläsernen Menschen produzieren. Bildhaftes Beispiel zur Erklärung des Gutachtens: Wenn ein 50-jähriger Mann auf dem Marcusplatz in Venedig ein 13-jähriges Mädchen sieht und dabei Gefühle bekommt, ist es erst mal keine grundsätzliche pädophile Neigung. Sogar wenn er das Mädchen anfasst, dann ist das in den Augen der Psychologen noch keine Pädophilie.“ [Hervorhebung von mir.]

Soll wohl heißen: „Der tut nichts, der will nur spielen!“

Meine Meinung: Wer solche Gutachten als Rechtfertigung heranzieht, um auffällig gewordene Priester weiter mit Kindern und Jugendlichen einzusetzen, der soll sich doch bitte nicht „entsetzt“ oder „schockiert“ zeigen, wenn bekannt wird, dass der betreffende Priester tatsächlich Kinder missbraucht hat. Er soll dann auch nicht – wie Weihbischof Bongartz – „selbstkritisch“ die Frage stellen, ob „vielleicht“ im Vorfeld „doch nicht genug gehandelt worden“ sei.

Interessant ist auch Bongartz‘ Aussage:

Die deutsche Bischofkonferenz hat 2002 vier der besten Forensiker benannt, um die Kirche zu beraten und Gutachten zu erstellen. Heute sagen wir, dass diese Gutachten wahrscheinlich nicht in der Weise helfen, wie wir ihnen damals vertraut haben.

Die Gutachter, von denen hier die Rede ist – und deren Arbeitsweise Heinz-Günter Bongartz oben erläutert hat –, sind offenbar Prof. Norbert Leygraf (Uniklinik Duisburg-Essen), Prof. Hans-Ludwig Kröber, Max Steller und Renate Volbert (alle Charité Berlin) und Prof. Friedemann Pfäfflin (Uniklinik Ulm). Leygraf, Kröber und Pfäfflin wurden vor kurzem von der Deutschen Bischofskonferenz mit der Untersuchung des Missbrauchs durch Priester in deutschen Diözesen beauftragt:

Das zweite Forschungsprojekt liegt in der Verantwortung von Prof. Dr. med. Norbert Leygraf, Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Universität Essen-Duisburg in Kooperation mit Prof. Dr. med. Hans-Ludwig Kröber (Charité – Universitätsmedizin Berlin) und Prof. Dr. med. Friedemann Pfäfflin (Universitätsklinikum Ulm). Das Projekt „Sexuelle Übergriffe durch Geistliche in der katholischen Kirche Deutschlands – Analyse psychiatrisch-psychologischer Gutachten“ soll mit einer qualitativen und quantitativen Gutachtenanalyse ein umfassendes Bild über Täterpersönlichkeiten ermöglichen. Dabei werden biographische Zusammenhänge sowie die Situation und Abläufe der vorgeworfenen sexuellen Handlungen und Merkmale der Opfer eine Rolle spielen. „Aus den Ergebnissen sollen Prädikatoren für Gefahrenmomente für sexuelle Missbrauchshandlungen identifiziert und Präventions­möglich­keiten abgeleitet werden“, erklärte Prof. Leygraf.

Der Eindruck verstärkt sich, dass hier gerade die mit der Suche nach Warnzeichen beauftragt wurden, die diese in der Vergangenheit in abenteuerlicher Weise ignoriert haben.

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5 Responses to Experten mit Scheuklappen (2): Was steht in Gutachten über auffällige Priester?

  1. klafuenf.de sagt:

    Ich bin mal gespannt, wann die erste Sau … ähem der erste Priester durchs Dorf getrieben wird. Oder sich im Knast den A…. vergolden lassen kann. Ich sag’ nur: Schrankdienst

  2. Barkai sagt:

    ich lass dir mal an dieser Stelle ein Lob für alle Blogeitnräge bzgl. der Fälle in Niedersachsen und der Rolle der (betriebs)blinden Sachverständigen da.

    Ich weiß bei diesen Fällen gerade in der RKK gar nicht, was mich mehr oder am meisten anwidert, dass man 1) Täter oder potentielle Täter gerne dort wieder einsetzt, wo sie spielend einfach neue Opfer finden können, dass man 2) Vorfälle vertuscht oder kleinredet, 3) so scheinheilig tut und oft selbstgerecht ist, wenn mal wieder ein Fall oft mit der Vertuschung und/oder seltsamen Definition von Vorfällen an die öffentlichkeit oder 4) dass man die Opfer gerne noch beleidigt, indem man ihnen Geldgier unterstellt (wie Lehmann), sie als besonders uneinseichtig darstellt bzw. als besonders sturr und hartherzig darstellt (s. Ackermanns „Bedauern“ dass man sich nicht mit allen Opfern versöhnt habe) und in seltenen Fällen (wie auf den Kanarischen Inseln) die Opfer als die Schuldigen hinstellt
    oder vllt 5) dass man wohl keinen Datenschutz betreibt, jedenfalls nicht bei Herrn Zollitsch, und man Adressen der Opfer vermutlich an die mutmaßlichen Täter weitergibt (die dann das Opfer durch Briefe belästigen); ich vermute mal, dass das nicht aus Versehen geschehen ist, sondern hier unterstelle ich einfahc Absicht: wie sonst hätte die Adresse des Opfers den Weg zum mutmaßlchen Täter finden können?!
    oh, bevor ich es vergesse: 6) dass man die Opfer mit einem Trinkgeld entschädigen will, dern einmalige Zahlung in normalen Fällen unter dem Monatsgehalt eines Bischofs liegen soll und in einem Fall (Report Mainz berichtete) ca. 5,56 EUR/Missbrauch betragen hat und man dann meint, dass man alles mögliche für’s Opfer getan habe.

    Wenn die südafrikanische Polizei den Täter bereits verhaftet hatte, als die Staatsanwaltschaft Krefeld noch einen internationalen Haftbefehl erwirkte, obwohl der mutmaßliche Täter zuerst in Krefeld zugeschlagen hat, bevor er in Südafrika vermutlich strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, da stellen sich Fragen: Sind die Opfer oder deren Angehörige in Deutschland weniger willig, Vorkommnisse anzuzeigen als die in Südafrika? Ist die Kirche in Deutschland gehschickter, was das Vertuschen angeht? Sind Polizei und Staatsanwaltschaft in Südafrika eher bereit (hart) durchzugreifen zum Schutze von Kindern und Jugendlichen?

  3. Shimapan sagt:

    Irgendwie wenig überraschen… natürlich sucht sich die Kirche gerade die „Experten“ aus, die am besten dazu in der Lage sind, die Mißbrauchsfälle möglichst unter den Teppich zu kehren oder zumindest so weit wie möglich zu verharmlosen.

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