Manfred Lütz verteidigte kürzlich in der FAZ den Abt und den Schulleiter des Klosters Ettal, die auf Druck des Erzbistums München und Freising zurücktreten mussten. In Wirklichkeit verteidigt sich Lütz aber selbst – denn er hatte seinerzeit die Geschassten in dem fraglichen Fall beraten.
Update: In der Süddeutschen Zeitung wurde bereits letzte Woche über dieses Thema berichtet – und dort wird nicht nur die Sicht von Manfred Lütz dargestellt, sondern auch die des Bistums.
Ich hatte neulich bereits darüber berichtet, wie in den Medien die Zahl von „nur“ 300 Pädophilie-Fällen die Runde machte, die allerdings nur deshalb so niedrig waren, weil dabei die strenge Definition von „Pädophilie“ (nämlich vorpubertäre Opfer) angewandt wurde und die um ein Vielfaches größere Zahl der Fälle, in denen die Opfer in der Pubertät waren (sog. „Ephebophilie“), ausgeklammert wurden.
Nun meldete sich neulich in der FAZ aus Rom Manfred „Hier behandelt der Falsche!“ Lütz zu Wort, der die Katholische Kirche beim Thema Kindesmissbrauch berät.
Es geht um den Fall von Barnabas Bögle, dem Abt der Benediktinerabtei Ettal, der im Februar nach Bekanntwerden der Fälle von Missbrauch und Gewalt im Kloster Ettal auf Druck des Erzbistums München und Freising zurücktreten musste, weil er gegen die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche verstoßen hatte.
In hanebüchener Wortklauberei argumentiert Lütz, bei dem fraglichen Fall habe es sich gar nicht einen Verdachtsfall auf „sexuellen Missbrauch“ gehandelt. (Anmerkung: gem. Wikipedia bezeichnet sexueller Missbrauch von Kindern „willentliche sexuelle Handlungen mit, an oder vor Kindern“.
Es wird tausende Eltern von Kindern an katholischen Einrichtungen ungemein erleichtern zu erfahren, was nach Ansicht von Manfred Lütz, Berater der Deutschen Bischofskonferenz zu Missbrauchsfragen, nicht gemeldet zu werden braucht:
Im Jahre 2005 hatte mich der gerade neugewählte Abt auf einen Pater angesprochen, der grenzüberschreitendes Verhalten gezeigt hatte. Abt und Schulleiter schilderten mir in aller Offenheit und geradezu mit Akribie, dass dieser Pater einen auf dem Bauch im Bett liegenden weinenden Jungen aus der 7. Klasse unter dem T-Shirt auf dem Rücken gestreichelt und massiert hatte. Das war den Jungen aus seiner Internatsgruppe unangenehm aufgefallen, sie hatten sich beim Internatsleiter beschwert, hatten auch von anderen derartigen Grenzüberschreitungen berichtet, und man hatte Pater G. daraufhin sofort von jeder pädagogischen Tätigkeit entbunden und alle Eltern der Gruppe informiert.
[Anmerkung: Im Gegensatz zu der obigen Darstellung von Lütz heißt es in der Süddeutschen, „der Schüler selber und auch seine umstehenden Kameraden empfanden dies als unangenehm und eine Grenzüberschreitung, sie beschwerten sich“.]
Offenbar ist Lützens Argumentation, da es nicht zu „sexuellen Handlungen“ gekommen war, sei dies nicht als Verdacht auf sexuellen Missbrauch einzustufen. Vielmehr handelt es sich Lütz zufolge um „Grenzüberschreitungen“ – über die sich aber immerhin mehrere Jugendliche beschwert hatten, woraufhin der betreffende Pater von jeder pädagogischen Tätigkeit entbunden wurde, und weswegen Manfred Lütz, Berater der Bischofskonferenz bei Missbrauchsfragen kontaktiert worden war. Außerdem waren „alle Eltern der Gruppe informiert“ worden.
Und Lütz meint, der bischöfliche Beauftragte der Erzdiözese für Missbrauchsvorwürfe hätte nicht informiert werden müssen. Da wird sich der Bischof ja ungemein freuen, wenn er dann vielleicht von Eltern auf den Fall angesprochen wird und keine Ahnung hat, wovon die reden.
Es ging aber noch weiter:
Es lag noch nicht einmal der Verdacht auf sexuellen Missbrauch vor
Nun stellte sich die Frage, was mit dem Pater geschehen sollte. Es war zwar von keiner Seite der Verdacht auf sexuellen Missbrauch geäußert worden, doch ich riet zur letzten Sicherheit und angesichts der Brisanz bei einem katholischen Gymnasium zu einem Gutachten bei Professor Friedemann Pfäfflin in Ulm. Dieser ist einer der international renommiertesten Experten auf dem Gebiet der Risikoabschätzung und wird von der Deutschen Bischofskonferenz in entsprechenden Fällen eingeschaltet.
Lütz vertritt hier offenbar die Auffassung, dass der bischöfliche Beauftragte für Verdachtsfälle auf Missbrauch selbst dann nicht informiert zu werden braucht, wenn ein professorales Gutachten eingeholt wird, ob der Verdächtige missbrauchsgefährdet sei.
Dem Gutachten zufolge soll dann kein Grund zur Sorge wegen sexuellem Missbrauch bestanden haben:
Das Gutachten war eindeutig: Es lag noch nicht einmal der Verdacht auf sexuellen Missbrauch vor, keine Pädophilie, auch sonst keine Diagnose und daher keine Notwendigkeit für eine Therapie. Pater G. habe seine Probleme mit Nähe und Distanz bereits gut reflektiert und könne in der Seelsorge, sogar langfristig in der Jugendarbeit, selbst ohne Teameinbindung eingesetzt werden. Der Pater wurde nach Wechselburg versetzt, dort vor allem in der Verwaltung und später mit anderen zusammen in der Seelsorge und der Jugendarbeit eingesetzt. Es gibt bis heute aus dieser Zeit keine einzige Klage über Fehlverhalten.
In der Süddeutschen heißt es dazu übrigens:
Pfäfflin findet, dass der Lehrer durchaus wieder in der Seelsorge, sogar in der Jugendarbeit eingesetzt werden könnte; zwar sprächen die Vorfälle „von sich aus dafür, dass man die Eignung von Pater R. für die Jugendarbeit in Frage stellen könnte“, dem sei aber entgegenzuhalten, dass die Anlässe „nicht auf ein unbehebbares Strukturdefizit der Persönlichkeit zurückzuführen“ seien, sondern lediglich „auf das, was man gegebenenfalls als eine Reifestörung bezeichnen mag“.
Manfred Lütz (habe ich bereits erwähnt, dass er die deutschen Bischöfe beim Thema Missbrauch berät?) vertritt also die Auffassung, dass dieser Fall nicht dem bischöflichen Beauftragten für Verdachtsfälle auf Missbrauch gemeldet werden musste. Und zwar, weil die bischöflichen Leitlinien von „sexuellem Missbrauch“ sprechen.
Werfen wir einmal einen Blick darauf, was diese Leitlinien, die ja in letzter Zeit so oft beschworen wurden, festlegen [Hervorhebungen im Fließtext von mir]:
I. Zuständigkeit
1. Der Diözesanbischof beauftragt eine Person, die den Vorwurf sexuellen Missbrauchs Minderjähriger prüft.
Wer von sexuellem Missbrauch Kenntnis erhält, soll sich an die beauftragte Person wenden. Alle kirchlichen Mitarbeiter sind verpflichtet, Fälle, die ihnen zur Kenntnis gebracht werden, weiterzuleiten. Der Beauftragte recherchiert den Sachverhalt und ist Kontaktperson für die staatlichen Strafverfolgungsbehörden. Ihm kann der Diözesanbischof einen Arbeitsstab aus Psychologen, Psychotherapeuten, Ärzten, Juristen, Theologen, Geistlichen und Laien, Männern und Frauen zur Seite stellen. Diözesanbischöfe können auch einen überdiözesanen Arbeitsstab einrichten. Die Zuständigkeit für die Prüfung von Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Ordensleute, die unter Gestellung in bischöflichem Auftrag tätig sind, liegt – unbeschadet der Verantwortung der Ordensoberen – bei der Diözese.
Ganz offensichtlich ist beabsichtigt, dass Verdachtsfälle von dem Beauftragten geprüft werden, welcher exakt zu diesem Zweck (eine Person, die den Vorwurf sexuellen Missbrauchs Minderjähriger prüft) bestimmt wurde, und dem ggf. auch die notwendigen Experten zur Seite gestellt sind.
Lützens Argumentation ist nichts anderes als Wortklauberei. Er beruft sich darauf, dass es weder zu „sexuellen Handlungen“ gekommen war, noch dass der Verdacht darauf geäußert wurde.
Aber gerade die Entbindung des Paters von allen pädagogischen Tätigkeiten, die Einschaltung von Lütz und die Einholung des Gutachtens von Professor Pfäfflin dokumentieren doch, dass hier durchaus Sorge bestand, die sich sicher nicht nur auf „Rückenstreicheln“ bezog.
Es ist daher völlig nachvollziehbar, dass das Bistum anlässlich des Rücktritts meldete:
Abt Barnabas übernimmt mit diesem Schritt die Verantwortung dafür, dass in Zusammenhang mit einem möglichen Missbrauchsfall gegen die bischöflichen „Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche“ vom 27.9.2002 verstoßen wurde. Diese Leitlinien sehen unabhängig vom tatsächlichen Vorkommen eines Missbrauchsfalls eine Meldepflicht möglicher Verdachtsfälle an den Bischöflichen Beauftragten der Erzdiözese für die Prüfung von Vorwürfen sexuellen Missbrauchs vor. Dieser Meldepflicht ist das Kloster nicht nachgekommen.
Nun aber legt Lütz los:
„Kollateralschäden in Kloster Ettal“ [die Überschrift seines Artikels].
[…] auch bei dieser gerechten Sache können „Kollateralschäden“ vorkommen, die unschuldige Menschen zwar nicht physisch, aber moralisch vernichten oder doch zumindest schwer schädigen. Ein unüberprüftes Gerücht, eine unprofessionelle Recherche, ein fehlinterpretierter Text, sie können verheerende Wirkungen haben. […]
Zu Unrecht zum Rücktritt gedrängt [Zwischentitel]
Im derzeitigen Missbrauchsskandal ist es inzwischen zu „Kollateralschäden“ gekommen. […]
[…] mittlerweile liegen schriftliche Beweise vor, dass beide in der Aufregung der ersten Stunden zu Unrecht zum Rücktritt gedrängt wurden. […]
[…] Der Ansprechpartner der Erzdiözese für Missbrauchsopfer, Monsignore Kneißl, las in der Aufregung offensichtlich das Gutachten falsch. […]
[…] Damit waren die Gründe für die Rücktritte hinfällig. […]
Der unbedingte Willen zur Aufklärung hatte Opfer geschaffen [Zwischentitel]
Und so weiter… Ich denke, der Stil des Artikels wird deutlich.
Lütz verteidigt sich selbst
Die Erregung von Lütz dürfte auch daher rühren, dass er sich womöglich bereits selbst als nächsten Kollateralschaden sieht. Denn wenn sich die Verantwortlichen des Klosters Ettal an ihn, den Berater der Deutschen Bischofskonferenz zu Missbrauchsfragen gewandt haben, und er hat sie nicht darauf hingewiesen, dass der Beauftragte des Bischofs einzuschalten ist, dann wirft das natürlich auch ein sehr, sehr schlechtes Licht auf ihn. Nach der Lektüre seines eigenen Artikels hat es den Anschein, als habe Lütz mit haarspalterischer Begründung zur Einschaltung eines Spezialgutachters, nicht aber zur Information des Missbrauchbeauftragten geraten.
Leider – so wird sich mancher Bischof denken – greift deshalb Lütz zufolge auch nicht die päpstliche Geheimhaltung in dieser Sache. Denn indem Lütz diesen – eigentlich innerkirchlichen – Konflikt öffentlich gemacht hat, hat er die Katholische Kirche in eine Zwickmühle versetzt:
Entweder, Lütz setzt sich in der Kirche mit seiner Auffassung durch – das würde die Eltern und die Öffentlichkeit zu Recht entsetzen. Es kann nicht sein, dass man erst bis zu konkreten Missbräuchen wartet, bis der Missbrauchsbeauftragte eingeschaltet wird.
Oder aber, Lütz setzt sich nicht durch. Dann stellt sich allerdings die Frage, was das für Berater sind, die sich die Bischöfe da ausgesucht haben, und in welcher Richtung die beraten.
Hmm… wenn ich so darüber nachdenke: Die letzte Frage stellt sich ohnehin, und eigentlich ist es kein echtes Dilemma für die Kirche.
Es würde mich nicht wundern, wenn Manfred Lütz in Kürze sein eigener Kollateralschaden wird.
Ja, so umgeht man die Richtlinien und holt sich anschliessend in Rom Beistand, um sich gegen das „böse Erzbistum“ zu schützen.
Diesbezüglich kann man sehr gespannt sein, was denn die Vistation des Klosters durch Rom ergeben wird….
Ich verspreche mir einen Hinweis darauf, wie ernst es die Kurie mit all den bisher gemachten Wortbekenntnissen nimmt.
[…] hätte der Fall auch nicht dem Missbrauchsbeauftragten des Bistums gemeldet werden müssen. (Manfred Lütz: Eine kleine Geschichte des größten Wortklaubers) Und Lütz muss es wissen: Er berät die katholischen Bischöfe schon seit Jahren beim Thema […]
[…] um „sexuellen Missbrauch“, sondern lediglich um „Grenzüberschreitungen“ gehandelt habe (ich berichtete). Dem SPIEGEL zufolge erklärte Bischof Müller aus Regensburg 2008 im Bayerischen Rundfunk, die […]
[…] den Papst und die deutsche Bischofskonferenz beim Thema Missbrauch berät* – er vertrat z.B. die Auffassung, dass Streicheln unter dem T-Shirt nicht den kirchlichen Missbrauchsbeauftragten zu melden ist, […]
Das Verfahren erinnert mich sehr an meinen eigenen Fall: ohne mein und das Wissen meines Vermittlers (es war von beiden Seiten Transparenz zugesichert worden) wurde mein detaillierter und intimer Bericht des Übergriffs durch einen Pater an Prof. Pfäfflin weiter gegeben. Dabei ging es gar nicht mehr darum, eine Risikoeinschätzung vorzunehmen, denn der Pater war zu diesem Zeitpunkt bereits geständig. (Einige Jahre zuvor hatte Prof. Pfäfflin übrigens schon einmal ein Gutachten zu diesem Pater erstellt). Ebenso wurde dieser Bericht – wiederum ohne unser Wissen – an eine Anwaltskanzlei weitergegeben, um die Strafbarkeit und Verfolgbarkeit überprüfen zu lassen, obwohl die neuen Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz ganz klar eine Anzeige vorschreiben.
[…] Manfred Lütz: Eine kleine Geschichte des größten Wortklaubers […]