evangelisch.de zu Guttenberg: Steinwürfe aus dem Glashaus

Bei evangelisch.de berichtet man ausgiebig über den Splitter im Auge des Verteidigungsministers.

Über die Doktorarbeit von Karl-Theodor zu Guttenberg wurde wohl schon alles gesagt. Nur noch nicht von jedem, und so berichtet auch die EKD-Website evangelisch.de ausgiebig über die Affäre. Hanno Terbuyken und Anne Kampf finden: „Die grundsätzliche Ehrlichkeit fehlt Plagiator Guttenberg“, und EKD-Ratsvorsitzender Nikolaus Schneider vermisst das „Ich“ in Guttenbergs Erklärung. Die restliche Berichterstattung macht ebenfalls einen ziemlich Guttenberg-kritischen Eindruck.

Und dies natürlich zu Recht. Trotzdem ist es interessant, sich einmal vor Augen zu führen, von welcher Seite Guttenberg hier kritisiert wird – und für was:

Zu Guttenberg wird vorgeworfen, dass er sich mit fremden Federn geschmückt, gegen die wissenschaftliche Arbeitsweise verstoßen und die Herkunft seiner Texte nicht ausreichend deutlich gemacht haben soll.

Verglichen mit den Kirchen ist er in dieser Hinsicht allerdings nur ein kleines Licht:

1. Die Kirchen schmücken sich ständig und unglaublich dreist mit fremden Federn, indem sie die Errungenschaften der Aufklärung – wie z.B. Menschenrechte, Gleichberechtigung, Abschaffung der Sklaverei und Religionsfreiheit – wieder und wieder als „christliche Werte“ etikettieren. Man schaue sich nur an, was die EKD zu den Zehn Geboten schreibt:

Die Werteordnung unserer westlichen Gesellschaft basiert  auf diesen Geboten, gleichermaßen wie die französische oder amerikanische Verfassung oder die UN-Menschenrechtscharta. […] Die zehn Gebote gehören zu den „Basics“ christlicher Verkündigung. Darüber hinaus  sind sie sowohl das Urmaterial der Gesetzgebung in allen westlichen Zivilisationen als auch die unbestrittene Grundlage unserer Kultur: Emanzipation der Geschlechter, soziale Gerechtigkeit, Sozialgesetzgebung, Demokratie und Schulpflicht, das Recht des Kindes auf Kindheit sind ohne die zehn Gebote nicht denkbar.

Hierzu hatte ich ja schon mal Stellung genommen. Aber unabhängig davon, dass die zehn Gebote eben keineswegs die Grundlage unserer Zivilisation sind, fällt auch auf, dass die christlichen Kirchen gut tausend Jahre Zeit gehabt hätten, um den oben vereinnahmten Werten Geltung zu verschaffen – haben sie aber nicht! Vielmehr mussten die Menschenrechte nicht selten gegen die Kirchen verteidigt werden – und müssen es immer noch.

Das ist auch kein Wunder, denn während Jesus bereits für Kleinigkeiten – wie z.B., dass jemand zu seinem Bruder  sagt: „Du Narr!“ – höllisches Feuer als Strafe androhte (Mt 5,22) und forderte, sich das Auge herauszureißen, wenn es einen zum Bösen verführe (Mt 5,29 – beides aus der ach so „hochwertigen“ Bergpredigt), hat er sich z.B. zum Verbrechen der Sklaverei überhaupt nicht geäußert. In einer Stelle (Mk 7,21-22) verurteilt Jesus ausdrücklich – und in dieser Reihenfolge (!): böse Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Arglist, Ausschweifung, Missgunst, Lästerung, Hochmut und Unvernunft. – Wieder erwähnt er die Sklaverei nicht, hält es aber für wichtig, Hochmut und Unvernunft ausdrücklich hervorzuheben.

Wer tatsächlich meint, Jesu Lehren seien die Grundlage irgendeiner Zivilisation, der zeige mir das Land, in dem die Menschen gesetzlich angehalten sind, jemandem, der sie schlägt, auch noch die andere Backe hinzuhalten.

Nein, die Behauptung – auch und gerade der EKD (s.o.) – unsere Gesellschaft basiere auf irgendwelchen speziellen (positiven) christlichen Werten, ist ebenso absurd wie dreist – Größenordnungen dreister, als es eine abgekupferte Doktorarbeit je sein könnte.

2. Guttenberg wird vorgeworfen, eklatant gegen wissenschaftliche Standards verstoßen zu haben. Was aber im Falle Guttenbergs selbst bei einer kritischen Position gegenüber der Erlangung von Doktortiteln als Ausnahme gelten kann, ist bei den Kirchen die Regel: Die sogenannte Wissenschaft „Theologie“ verstößt schon per Definition gleich gegen zwei Grundpfeiler wissenschaftlicher Arbeit: nämlich die Überprüfbarkeit und die Ergebnisoffenheit. Stattdessen wird bei der Theologie vorgegeben – je nach Religion bzw. Konfession unterschiedlich, wohlgemerkt – was zu lehren ist und wer es lehren darf. Siehe z.B. den Fall von Prof. Gerd Lüdemann. Die Doktortitel der Theologie von Nikolaus Schneiders Vorgängern als EKD-Ratsvorsitzender, Dr. Margot Käßmann und Dr. Wolfgang Huber, sollten eigentlich nicht weniger unangebracht erscheinen als der des Verteidigungsministers. (Dass Huber, der es immerhin fertigbrachte, als EKD-Ratsvorsitzender in einem Schreiben für „Pro Reli“ in 11 Sätzen 6 mal die Unwahrheit zu sagen, heute als Redner und Berater (Hubers Homepage: „Vordenker“) zum Thema „Ethik“ unterwegs ist und sich „vor allem der Wertevermittlung in Wirtschaft und Gesellschaft“ widmet, erinnert in seiner Dreistigkeit ebenfalls an den Verteidigungsminister.)

Wieder zeigt sich: Guttenbergs Verfehlungen im Hinblick auf die wissenschaftliche Vorgehensweise sind unbedeutend, verglichen mit den Verstößen, die bei der Theologie das Fach gerade erst begründen.

3. Guttenberg hat seine Leser über seine Quellen im Unklaren gelassen. Auch hier gilt: Was im wissenschaftlichen Bereich als unrühmliche Ausnahme gelten kann, hat bei den Kirchen Methode: Obwohl längst bekannt ist, dass z.B. die 5 Bücher Mose nicht von Mose, die vier Evangelien nicht von Aposteln – erst recht nicht mit den Namen Matthäus, Markus, Lukas, und Johannes – und mehrere sogenannte „Paulusbriefe“ nicht von Paulus geschrieben wurden, glaubt die Masse der Gläubigen immer noch genau das – und die Kirchen lassen jedenfalls keine Bemühungen erkennen, das zu ändern – ebenso wenig wie bei der bekannten Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin (Joh 8,1-11, „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“) oder den Auferstehungsgeschichten und dem Himmelfahrtsbericht bei Markus (16,9-20) darauf hingewiesen wird, dass diese in den ältesten Handschriften fehlen. Auch wird oft und gerne mit den angeblichen Worten Jesu aus dem Johannesevangelium geworben: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ (Joh 14,6), obwohl praktisch kein Theologe mehr glaubt, dass Jesus diese Worte tatsächlich so oder auch nur so ähnlich gesagt hat.

Aufgrund dieses „Jesuswortes“ glauben aber Kinder und Erwachsene, dass nur Christen „in den Himmel“ kommen, was zu schlimmen Ängsten und Spannungen führen kann, wenn jemand, der so etwas glaubt, erfährt, dass ein geliebter Mensch – Vater, Mutter, Kind, Ehemann, Freund, Freundin – nicht Jesus als „Herrn“ und „Retter“ akzeptiert. Richard Dawkins zitiert in seinem Buch „Der Gotteswahn“ aus dem Brief einer Frau, den er erhielt:

Vom Priester gestreichelt zu werden hinterließ (im Geist einer Siebenjährigen) nur den Eindruck von „Igitt“, aber dass meine Freundin zur Hölle gefahren war, führte bei mir zu einer Erinnerung an kalte, unermessliche Angst. Wegen des Priesters hatte ich keine schlaflosen Nächte – aber ich lag so manche Nacht wach mit dem entsetzlichen Gedanken, dass Menschen, die ich liebte, in die Hölle kommen konnten. Das verursachte mir Albträume. [Der Gotteswahn (Taschenbuch), S. 525]

Auch hier gilt: So sehr Guttenbergs Umgang mit seinen Quellen zu verurteilen ist – er verblasst im Vergleich zur kirchlichen Praxis.

Guttenbergs dreistes Verhalten wird völlig zu Recht kritisiert – dafür braucht es allerdings die Kirchen nicht. Bei evangelisch.de und der EKD sollte man lieber stille Demut üben statt Schlagzeilen zu produzieren wie „Die grundsätzliche Ehrlichkeit fehlt Plagiator Guttenberg“.

Ja, liebe Leute von evangelisch.de – aber nicht nur Ihm!

9 Responses to evangelisch.de zu Guttenberg: Steinwürfe aus dem Glashaus

  1. Tammox sagt:

    Sehr schöner Artikel!

    Danke.
    Insbesondere der Verweise auf Bischof Huber, der sich in der Pro-Reli-Kampagne für keine Verdrehung der Tatsachen zu schade war, gefällt mir.

    Die Christliche Kirche nahm es nun wirklich nie mit der Wahrheit so genau – von der Konstantinische Schenkung (Donatio Constantini ad Silvestrem I papam) über den Handel mit Myriaden gefälschten Reliquien bis zu Ablasshandel, der Verurteilung Galileo Galileis und der These die RKK habe Hitler bekämpft.

    LGT

  2. FJ sagt:

    Vielen Dank für diesen Artikel!

  3. Bundesbedenkentraeger sagt:

    In welcher Weise hat die Aufklärung die Abschaffung der Sklaverei bewirkt? Google will hier nicht besonders hilfreich sein. Auch bei wikipedia stoße ich nur auf Quäker und andere christliche Gruppierungen, wenn überhaupt die Weltanschauung genannt wird. Die klassischen Vorbilder der Aufklärer lebten in einer Welt mit Sklaven, die Sklaverei wurde damals nicht abgeschafft. Was ich mich also frage: Wie läßt sich die Ablehnung der Sklaverei mit der Aufklärung in Zusammenhang bringen, und wo sind die historischen Verbindungen zwischen nichtchristlich-aufgeklärter Weltanschauung und Abschaffung der Sklaverei?

    Noch schwerer fällt es mir, bei der Religionsfreiheit die Aufklärung am Werk zu sehen, da diese ja schon ansatzweise 1526 auf dem Speyrer Reichstag gewährt wurde. Die Idee an sich ist also älter als die Aufklärung, ach wenn es erst später zur Ausweitung der Idee zum heutigen Stand kam. Erste Verbesserungen kamen schon 1555 (ius emigrandi) und 1648 mit der Gleichstellung der Reformierten vor dem Einsetzen der Aufklärung zu Stande. Spätere Universalisierung der Religionsfreiheit mag zur Zeit der Aufklärung erfolgt sein, die Idee der Freiheit von Bevormundung im religiösen Bereich gab es jedoch schon vorher, so wie ich das sehe…

    • Skydaddy sagt:

      Hallo BBT, willkommen!

      Wie üblich, greifst Du Dir wieder was Nebensächliches raus, um daran herumzukritteln.

      Ich habe oben versucht, knapp und möglichst überzeugend zu skizzieren, dass die Behauptungen der EKD absurd sind.

      Es wäre eigentlich Aufgabe der EKD, Belege für ihre Behauptungen zu erbringen. Kern meiner Argumentation ist der Satz, „dass die christlichen Kirchen gut tausend Jahre Zeit gehabt hätten, um den oben vereinnahmten Werten Geltung zu verschaffen – haben sie aber nicht!“ Die von Dir erwähnte „ansatzweise“ Gewährung von Religionsfreiheit von 1526 ändert daran nichts.

      Es ist auch richtig, dass die Sklaverei nicht unmittelbar abgeschafft wurde. Die Axt wurde aber bereits daran gelegt, als 1776 in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten erklärt wurde: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter Leben, Freiheit(!) und das Streben nach Glückseligkeit sind.“

      Ich würde das mal mit der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vergleichen, die auch erst nach und nach dazu führt, dass z.B. in öffentlichen Gebäuden keine Kreuze mehr aufgehängt werden oder Homosexuelle nicht mehr benachteiligt werden dürfen.

      Das hat einen ganz anderen Charakter als die Bibel, die Sklaverei nicht nur nicht verurteilt, sondern sogar noch regelt.

      Bist Du der Ansicht, dass die obigen Behauptungen der EKD korrekt sind? – Was könnten Belege dafür sein?

      • bundesbedenkentraeger sagt:

        Ich würde Abschaffung der Sklaverei und die Einführung der Religionsfreieit nicht auf die 10 Gebote zurückführen. Zumindest nicht allein (in einer Fassung der 10 Gebote wird ja zumindest auf den freien Tag für die Sklaven eingegangen mit Verweis auf Ägypten). Insofern würde ich sagen: Ja, ich habe nicht den Eindruck, daß die Aussage der EKD hier korrekt ist.
        Nur: Deine Aussage, daß dies alles der Aufklärung zu verdanken sei, ist ebensowenig korrekt. Wenn, dann schmückst auch Du Deine Gruppe mit fremden Federn. Man müßte noch eruieren, inwieweit Sklavereiabschaffung und Religionsfreiheit zwar niht mit den 10 Geboten, aber mit dem Christentum zusammenhängen. Meine Erwartung ist, daß das Ergebnis einer solchen Untersuchung durchaus eine erhebliche „Mitschuld“ des Christentums bei besagten Freiheiten zu Tage fördern würde. Im Grunde ist es sowieso schwierig, Aufklärung und Christentum zu trennen, denn die Aufklärung entstand in Europa und steht auf christlichem Fundament. Sie ist auch nicht identisch mit den antiken Vorstellungen, die sie zwar rezipiert, die sie aber auch abändert und weiterentwickelt, unter anderem unter Einfluß des Christentums. Ich denke Du wirst mir zustimmen, daß die Aufkärung nicht aus dem leeren Raum geboren wurde und das Ausspielen der Aufklärung gegen das Christentum so nicht funktioniert, denn ohne Christentum keine Aufklärung (das sollte historisch klar sein).

      • Skydaddy sagt:

        Aufklärung
        Ich würde „die Aufklärung“ gar nicht als solche verteidigen wollen, und zwar weil der Begriff doch im Rückblick auf eine historische Entwicklung verwendet wird und quasi definitionsgemäß gerade die – aus heutiger Sicht – positiven Entwicklungen bezeichnet.

        Wenn der Begriff der Aufklärung aber rückblickend gerade die positiven Entwicklungen meint, dann ist es müßig, zu belegen, dass diese Entwicklungen Bestandteil der Aufklärung waren.

        Das ändert aber nichts daran, dass die von mir oben genannten Errungenschaften – Menschenrechte, Gleichberechtigung, Abschaffung der Sklaverei und Religionsfreiheit – nun einmal Folgen dessen sind, was üblicherweise mit der Aufklärung bezeichnet wird. Vgl. z.B. aus der Einleitung des Wikipedia-Artikels „Aufklärung„:

        Aufklärung steht im alltäglichen Sprachgebrauch für das Bestreben, durch den Erwerb neuen Wissens Unklarheiten zu beseitigen, Fragen zu beantworten, Irrtümer zu beheben. […]

        Zum Programm der historischen europäisch-nordamerikanischen Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert gehört die Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz, eine Hinwendung zu den Naturwissenschaften in der philosophischen Erkenntnistheorie, in Religionsfragen das Plädoyer für Toleranz gegenüber anderem Glauben, in Moral- und Rechtsphilosophie die Orientierung am Naturrecht. Gesellschaftspolitisch zielte Aufklärung auf die Ausdehnung der persönlichen Handlungsfreiheit (Emanzipation), auf eine neue Pädagogik, die Schaffung von Pressefreiheit und die Garantie bürgerlicher Rechte unter Zugrundlegung allgemeiner Menschenrechte sowie die Verpflichtung moderner Staaten auf das Gemeinwohl. […] Gemeinsam war den Aufklärern das Vertrauen auf die Macht der kritischen Öffentlichkeit als einer Institution, die den Prozess der Aufklärung vorantreibt.“

        Hier werden nahezu wörtlich die Punkte genannt, für die die EKD oben die Zehn Gebote als Grundlage herbeifantasiert.

        Fraglos waren Christen an diesen Entwicklungen maßgeblich beteiligt – irgendwer muss sie ja vorangetrieben haben, und damals waren nun mal die meisten Leute Christen (in den betreffenden Regionen).

        Es ist aber doch offensichtlich, dass es eben nicht das Christentum – zumindest in seiner bisherigen, 1.500 Jahre praktizierten Form – war, das den Ausschlag dafür gegeben hat – sonst hätten diese Entwicklungen doch schon viel früher einsetzen müssen.

        Man könnte dies grob vereinfacht quasi auf die Formel bringen: Christen „pur“ = keine Menschenrechte (in der heutigen Form), Christen+Aufklärung=Menschenrechte.

        Quäker
        Dazu passt auch gut, dass die von Dir (bzw. Wikipedia) im Zusammenhang mit der Abschaffung der Sklaverei genannten Quäker praktisch zeitgleich mit der Aufklärung entstanden sind. Und dass das „Quäkerzeugnis“ geradezu die Rechtfertigung liefert, die Bibel und selbst Jesuworte zugunsten einer zeitgemäßen Theologie hintanzustellen:

        Ihr mögt sagen: Christus hat dies gesagt und die Apostel jenes – aber was kannst du selbst sagen? Bist du ein Kind des Lichts und bist du im Licht gewandelt, und was du sprichst, ist es im Innersten von Gott?

        Methodisten
        In einem anderen Artikel werden auch die Methodisten im Zusammenhang mit der Abschaffung der Sklaverei genannt. Im 18. Jahrhundert gegründet, scheinen auch diese durch die Aufklärung beeinflusst, was sich m.E. z.B. an der „wesleyanischen Quadrilateral“ – den vier Quellen theologischer Erkenntnis – zeigt: Bibel, Tradition, Erfahrung und Vernunft.

        Ohne Christentum keine Aufklärung?
        Der Umstand, dass die Aufklärung quasi zeitlich „nach“ dem Christentum kam, heißt nicht, dass sie eine logische Folge des letzteren ist – und erst Recht nicht, dass es eine Aufklärung ohne Christentum nicht geben könne.

        Beispiel: In der Präambel zur Verfassung des Freistaates Bayern heißt es:

        Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, in dem festen Entschlusse, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechtes dauernd zu sichern, gibt sich das Bayerische Volk, eingedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte, nachstehende demokratische Verfassung.

        Man könnte nun zwar technisch korrekt behaupten, die jetzige demokratische Verfassung des Freistaates Bayern sei ohne den Nationalsozialismus nicht möglich gewesen – daraus lässt sich aber nicht schlussfolgern, dass die bayerische Verfassung irgendwie maßgeblich von nationalsozialistischem Gedankengut geprägt sei. Vielmehr wurde offensichtlich gerade das Gegenteil angestrebt.

        Genauso wenig lässt sich argumentieren, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung maßgeblich vom Christemtum geprägt sei, weil sie auf anderthalb Jahrtausende Christentum folgte.

        Man weiß es nicht …
        Man könnte vielleicht noch argumentieren, dass die Christen es eben früher nicht besser wussten, und ihre Theologie doch, ähem, meist mehr oder weniger schnell angepasst haben.

        Das Problem, das ich damit habe, ist, dass Religionen allgemein, speziell aber das Christentum, typischerweise gerne behaupten, es schon am besten zu wissen. („Absolute“ oder „alleinseligmachende Wahrheit“ sind treffende Bezeichnungen dafür, die katholische Kirche versteht unter „Wahrheit“ ganz offiziell die eigene Lehre.)

        Fremde Federn
        Im Übrigen schmücke ich mich nicht mit fremden Federn, wenn ich darauf hinweise, dass die Errungenschaften der Zivilisation der Aufklärung zu verdanken sind. Allerdings finde ich, dass die Prinzipien der Aufklärung in Theorie und Praxis überzeugen – etwas, das ich bei Religionen nicht so erkennen kann.

        Damit schmücke ich mich aber genauso wenig mit fremden Federn, wie jemand, der z.B. Studenten die wissenschaftliche Arbeitsweise beibringt oder als Wissenschaftler arbeitet, sich die Erfolge der großen Wissenschaftler an die Brust heftet.

        Dank
        Danke für Deine kritischen Kommentare. Ich habe bei den Recherchen für meine Antworten schon wieder eine Menge gelernt.

  4. bundesbedenkentraeger sagt:

    „Es ist aber doch offensichtlich, dass es eben nicht das Christentum – zumindest in seiner bisherigen, 1.500 Jahre praktizierten Form – war, das den Ausschlag dafür gegeben hat – sonst hätten diese Entwicklungen doch schon viel früher einsetzen müssen.

    Man könnte dies grob vereinfacht quasi auf die Formel bringen: Christen „pur“ = keine Menschenrechte (in der heutigen Form), Christen+Aufklärung=Menschenrechte.“

    Interessante Logik: Ist wie wenn man sagt: Naturwissenschaft wird seit den alten Griechen (und länger?) betrieben. Folglich können die Erkenntnisse der letzten Jahre, wie Kernphysik, Biotechnologie oder Kunststoffherstellung nicht auf die Naturwissenschaft zurückzuführen sein, da sie sonst viel früher hätten einsetzen müssen. So denkst Du nciht und so denke ich nicht. Wieso soll dies für das Christentm gelten und für die Naturwissenschaften nicht? Welchen Grund hat es, daß die Aufklärung mit all ihren Werten im „christlichen Abendland“ stattgefunden hat, und nicht in China oder anderen Hochkulturen, die nicht durch das Christentum belastet waren?

    @Quäker:
    Tu doch bitte nicht so, als werde sonst keine zeitgemäße Theologie betrieben. Die Quäker haben das Bisherige kritisiert und sind ihren eigenen Weg gegangen. Das passiert ständig, nciht nur bei den Quäkern, sondern bei allen Konfessionen. Lediglich die unreflektierte Betrachtung der Religion, wie sie etwa in gewissen atheistischen Kreisen gepflegt wird, führt zu einem anderen Bild. Luther hat schon die Bibel gemäß seiner Theologie geformt, hat so übersetzt wie er es für richtig hielt, teilweise gegen den vorhandenen Text. Er hat auch Schriften umgestellt nach der Wichtigkeit, die er ihnen zugestand. Tu doch bitte nicht so, als seien alle Christen Roboter, die den Bibeltext als Programmcode ausführen, während einige wenige wie die Quäker dies nicht tun, weil sie „zeitgemäß“ nd daher unbiblisch/nchristlich sind.

    @Methodisten und ihre 4 Quellen:
    Bibel und Tradition waren vorher schon Quellen theologischer Erkenntnis, Tradition vor allem bei der römischen Kirche, die Bibel in ihren Einzeltexten schon bevor der Kanon feststand. Luther berief sich schon beim Reichstag in Worms darauf, man möge ihn aus Bibel und mit Vernnftgründen widerlegen. Die Vernunft war also auch mindestens seit der Reformation als Quelle theologischer Erkenntnis gegeben (genau gesagt war dies auch schon immer der Fall, aber lassen iwr das). Bleibt die Erfahrung, die die Methodisten zu einer genuin von der Aufklärung abhängigen Bewegung machen soll. Unter Erfahrung wird in der englischsprachigen Wikipedia genannt: „a Christian’s personal and communal journey in Christ“. Nun ist es doch so, daß auch diese persönliche Erfahrung schon vorher eine Rolle spielte. Wie ist es denn mit den Propheten? Sie haben zeimlich persönliche Erfahrungen afgeschrieben, die zu Quellen theologischer Erkenntnis wurden. Das gilt für alle, die am Text der Bibel beteiligt waren. Neu gegenüber der Urkirche ist unter mständen ein individualistischer Zug, und der Individalismus ist ja auch ein Aspekt der Aufklärung. Nur hat der Individualismus in Glaubensfragen seine Wurzel eben auch in der Reformation, wo der Glaube eines Mönches dem allgemeinen Glauben gegenübergestellt wurde und wo schließlich auf dem Reichstag festgestellt wurde, daß es in Glaubensdingen keine Mehrheitsentscheidungen geben kann, weil man durch das Gewissen gebunden ist. Übrigens war der Individualismus damals noch rückgebunden an die Verantwortung vor Gott. So gesehen gab es die Betonung des Individellen schon in der Antike bei den Märtyrern, die dem Glauben nicht abschworen, um ihr Leben zu retten. Schon in vorchristlicher Zeit ist das bei den Juden aufgetreten. Da war noch lange keine Rede von Aufklärung.

    „Der Umstand, dass die Aufklärung quasi zeitlich „nach“ dem Christentum kam, heißt nicht, dass sie eine logische Folge des letzteren ist – und erst Recht nicht, dass es eine Aufklärung ohne Christentum nicht geben könne.“
    Mir geht es nicht um den zeitlichen Aspekt alleine. Mir geht es um die Verbindung von zeitlichen nd örtlichen Aspekten, wobei die Aufklärung ja nicht nach dem Christentum, sondern gleichzeitig damit stattfand, wie auch die Kreuzzüge.

    „Man könnte nun zwar technisch korrekt behaupten, die jetzige demokratische Verfassung des Freistaates Bayern sei ohne den Nationalsozialismus nicht möglich gewesen – daraus lässt sich aber nicht schlussfolgern, dass die bayerische Verfassung irgendwie maßgeblich von nationalsozialistischem Gedankengut geprägt sei. Vielmehr wurde offensichtlich gerade das Gegenteil angestrebt.“
    Die bayrische Verfassung und nsere freiheitlich-demokratische Grundordnng ist tatsächlich im Gegensatz zm Nationalsozialismus entstanden. Doch scheint mir ein Unterschied wichtig: Der Nationalsozialisms kam zu einem Ende, und es wrde ein Neuanfang gemacht. Das Christentum kam in der Aufklärung jedoch nicht zum Ende. Es beeinflusste die Gedanken der Aufklärung und wurde seinerseits durch die Aufklärung beeinflsst und hat sich weiterentwickelt. Die Aufklärung war Teil des Christentums, und während es innerhalb des Christentms Gegner aufklärerischer Ideen gab, gab es genauso Befürworter, und beide konnten sich auf theologische Argumente berufen.

    „Im Übrigen schmücke ich mich nicht mit fremden Federn, wenn ich darauf hinweise, dass die Errungenschaften der Zivilisation der Aufklärung zu verdanken sind.“
    Na, das ist doch der Knackpunkt. Du lobst die Aufklärung in den Himmel und verkennst dabei, das der Kern der Errngenschaften vor der Aufklärung liegt, nd zwar großteils in der christlich geprägten Denke der damaligen Zeit. Allein der aufkommende Individualismus in der Reformationszeit wäre da ein weites Feld.

    „Man könnte vielleicht noch argumentieren, dass die Christen es eben früher nicht besser wussten, und ihre Theologie doch, ähem, meist mehr oder weniger schnell angepasst haben.“
    Das ist es, was ich nicht verstehe: Du unterstellst damit, die Weiterentwicklungen kommen durch Nichtchristen zu Stande und zwar im Gegensatz zu allem Christlichen. Falls es sich doch um Christen handelt, die aktiv wurden, sind es falsche Schotten wie die Quäker, die ja eigentlich aufgeklärt waren, und wenn es im Christentm schon entsprechende Traditionen gibt, dann werden die als nichtchristlich bezeichnet, indem man nach einer innerchristlichen gegenbewegung sucht. Das Bild vom Christentum, das Du damit zeichnest ist ziemlich platt und unreflektiert, und eben das verstehe ich nicht, weil Du ansonsten, wenn es um die Positionen der Nichtchristen geht, sehr reflektiert argumentieren kannst.

    „Das Problem, das ich damit habe, ist, dass Religionen allgemein, speziell aber das Christentum, typischerweise gerne behaupten, es schon am besten zu wissen. („Absolute“ oder „alleinseligmachende Wahrheit“ sind treffende Bezeichnungen dafür, die katholische Kirche versteht unter „Wahrheit“ ganz offiziell die eigene Lehre.)“

    Geht es Dir jetzt um Rom, oder geht es Dir um alle Christen? Klar, die Katholen verstehen unter „Wahrheit“ die eigene Lehre, aber sie verstehen darunter nicht das, was Du unter „Wahrheit“ verstehst. Das würden sie dann anders nennen. Für das, was die Katholiken „Wahrheit“ nennen, gibt es in Deinem Weltbild keinen Begriff, weil dieser Begriff das göttliche vorassetzt, das in Deinem Weltbild wie ich es verstehe nicht vorkommt. Ich frage mich sowieso, inwieweit „Wahrheit“ überhaupt eine Kategorie sein kann, in der Du denkst. Denn naturalistisch-wissenschaftlich gesehen gibt es doch lediglich Wahrscheinlichkeiten. Oder hab ich da etwas falsch verstanden. Insofern hätt ich dann mal eine Rückfrage: Was verstehst Du unter Wahrheit? Ist es für Dich ein Synonym für Realität?

    Das Christentm und Religionen im Allgemeinen meinen nicht zwingend, „es“ besser zu wissen. Bis auf ein paar Spinner machen wir uns wenige Gedanken über die Entstehung der Arten. Wir machen uns wenig Gedanekn über die Geschichte des Kosmos etc. Das sind Bereichte, die uns nter Glabensaspekten nicht sonderlich interessieren, weil sie den Glauben nciht tangieren. Was also ist genau das „es“, das Christen besser wissen? Ist es das, wo sie sich zu bestimmten Gesetzen oder gesellschaftlichen Entwicklungen äußern? Das tun Gewerkschaften ach, und jeder sagt: Okay, das sehen die Gewerkschaften so. Und man bildet sich ne Meinung daz, was die Gewerkschaften sagen, man stimmt dem zu oder lehnt es ab, und gut ist. Wo ist der Unterschied dazu, wenn „die Christen“ was sagen?

    „Danke für Deine kritischen Kommentare. Ich habe bei den Recherchen für meine Antworten schon wieder eine Menge gelernt.“

    Den Dank kann ich nur zurückgeben. Auch ich lerne immer wieder dazu. Noch nen schönen Sonntag.

  5. Skydaddy sagt:

    SKYDADDY OVERFLOW ERROR! 😉

    Also, bevor ich versuche, auf alle Deine Punkte einzugehen, hier erst einmal zwei Dinge:

    1) Ich bestreite natürlich nicht, dass Christen an diversen positiven gesellschaftlichen Entwicklungen maßgeblich beteiligt waren.

    2) Ich bestreite auch nicht, dass diese Christen glaubten, durch ihr Christsein dazu motiviert gewesen zu sein. (Hier unterstellst Du mir, glaube ich, z.T. Dinge, die ich gar nicht vertrete.)

    Ich bezweifele allerdings, dass tatsächlich das Christentum war, das den entscheidenden Einfluss ausgeübt hat, und zwar aus zwei Gründen:

    1.) Lässt sich die freiheitlich-demokratische Grundordnung m.E. aus der Bibel bzw. dem christlichen Glauben nicht schlüssig ableiten. (Eher scheint mir das Gegenteil der Fall zu sein.)

    2.) Wenn das Christentum trotzdem irgendwie die Grundlage der freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung wäre, hätte ich erwartet, dass sich diese früher herausgebildet hätte und nicht erst nach anderthalb Jahrtausenden Christentum.

    Christentum vs. Zeitgeist

    Wir scheinen uns einig zu sein, dass sich das heutige Ethikverständnis über die Jahrhunderte – schrittweise – entwickelt hat, und zwar in christlichen Gesellschaften, wie Du anmerkst.

    Im Prinzip könnte man die Einflüsse auf diese Gesellschaften in zwei Kategorien unterteilen: „Christentum“ und „Zeitgeist“ – wobei „Christentum“ die spezifisch christlichen Einflüsse umfasst und „Zeitgeist“ diejenigen Einflüsse, denen alle Menschen ausgesetzt sind, unabhängig von ihrer Weltanschauung: z.B. (Religions-)Kriege, wissenschaftliche Erkenntnisse oder technische Errungenschaften.

    Hier lassen sich übrigens die oben erwähnten vier Erkenntnisquellen der Methodisten klar zuordnen: nämlich Bibel und (christliche) Tradition dem Christentum, und Erfahrung und Vernunft dem „Zeitgeist“.

    Und hier scheint mir doch recht offensichtlich zu sein, dass die entscheidenden Einflussgrößen der ethischen Entwicklung Erfahrung und Vernunft waren – und nicht Bibel und christliche Tradition: Aus der Bibel lässt sich zwar vieles herauslesen, aber kaum die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Und (ethische) Neuerungen dürften sich definitionsgemäß schwerlich aus der Tradition ableiten.

    “Warum nicht China?“

    Das beantwortet allerdings noch nicht Deine Frage: ‘Welchen Grund hat es, daß die Aufklärung mit all ihren Werten im „christlichen Abendland“ stattgefunden hat, und nicht in China oder anderen Hochkulturen, die nicht durch das Christentum belastet waren?‘

    So, wie Du die Frage formulierst, gleicht sie allerdings einem „Argument from Ignorance“ (Argumentum ad ignorantiam) – dem Fehlschluss, dass die eigene Erklärung richtig sein müsse, weil man keine andere Erklärung kennt. (Und sich auch nicht vorstellen kann, dass es eine andere Erklärung geben könnte.)

    Du kannst Dir offenbar keine andere Erklärung vorstellen, als dass das Christentum die Ursache für die Herausbildung unserer heutigen Werte war – und hast wohl auch nach keiner anderen Erklärung gesucht. Bei Wikipedia heißt es dazu: „Der so Argumentierende sieht seine mangelnde Vorstellungskraft oder sein Unwissen als hinreichend für die Widerlegung bzw. Bestätigung einer These an.“

    Die Frage, weshalb historische Entwicklungen gerade dort stattgefunden haben, wo sie stattgefunden haben, will aber natürlich beantwortet sein:

    Kanonen, Keime und Stahl

    Hierzu hat Prof. Jared Diamond – weltanschaulich völlig neutral – 1997 das Buch „Guns, Germs, and Steel: The Fates of Human Societies“ (Arm und Reich: Die Schicksale menschlicher Gesellschaften) veröffentlicht, für das er den Pulitzer-Preis verliehen bekam. Wikipedia gibt einen Überblick über seine Theorie, aus dem ich im Folgenden zitiere (Hervorhebungen von mir):

    Die Entstehung von Ackerbau und Viehzucht in Mesopotamien war demnach möglich, weil in dieser damals gemäßigten Klimazone mit ausgeprägten Jahreszeiten eine Reihe von domestizierbaren Wildpflanzen wie Erbsen, Weizen und Gerste wuchsen, deren relativ große Früchte und Körner aufgrund der Überwinterungsfähigkeit der Spezies lange aufbewahrt werden konnten. Ähnlich günstige Voraussetzungen bestanden für die Domestizierung größerer Säugetiere, insbesondere für die von Rindern und Pferden, die neben ihrer Funktion als Milch- und Fleischlieferanten auch als Zug- und Transportiere eingesetzt werden konnten.

    Dies ermöglichte die Erwirtschaftung eines Nahrungsmittelüberschusses, der wiederum einen Bevölkerungsanstieg, die Entstehung von Sesshaftigkeit, Handwerk, Innovationen und Technologien wie der Metallbearbeitung und arbeitsteiligen Gesellschaften ermöglichte. Das führte zur Entwicklung von Städten, was seinerseits komplexe politische Systeme, gesellschaftliche Hierarchien, Verwaltung und die Entwicklung der Schrift nach sich zog. Die größere Anzahl an Menschen, verbunden mit überlegener Waffentechnologie und besserer Organisation führte zur Verdrängung oder Anpassung benachbarter Jäger-und Sammlergesellschaften. Die zusammenhängende Landmasse Eurasiens, mit ähnlichen Klimazonen und ohne größere, unumgehbare geographische Barrieren wie Wüsten und Gebirge ermöglichte eine relativ rasche Ausdehnung dieser Errungenschaften sowohl in westlicher als auch in östlicher Richtung. […]

    Die fragmentierte Geographie Europas verhinderte, anders als in China, die Entstehung größerer Reiche und führte zu einer Konkurrenzsituation, die wiederum die Entwicklung der Waffentechnologie und politischer Systeme begünstigte.

    So viel zu Deiner Frage „Warum nicht China?“

    Viele dieser Voraussetzungen waren in anderen Erdteilen nicht oder nur teilweise gegeben, so dass sich entsprechende Entwicklungen außerhalb der eurasischen Landmasse gar nicht, oder nur langsamer und ineffizienter vollzogen. So wurden beispielsweise domestizierbare Tiere in Nordamerika durch steinzeitliche Jäger ausgerottet. Die Nord-Süd-Ausrichtung und die Geographie des amerikanischen Kontinents wiederum verhinderte die Verbreitung von domestizierten Pflanzen aus gemäßigten Breitengraden, da tropische Zonen, der Isthmus von Panama und die Wüsten im Süden Nordamerikas als natürliche Barrieren wirkten. In den anderen Erdteilen wie etwa Afrika und Australien fehlten Grundvoraussetzungen von vornherein, wie etwa das Vorhandensein domestizierbarer Tiere, gepaart mit ungünstigen geographisch-klimatischen Bedingungen (Australien) und der nachteiligen Nord-Süd-Achse mit dazwischenliegenden Tropenzonen (Afrika).

    Es geht mir hier weniger um die Frage, ob Jared Diamond mit dieser Theorie Recht hat, als darum, zu zeigen, dass es durchaus andere Erklärungen geben könnte als das Christentum.
    Ich habe Diamonds Buch allerdings schon vor Jahren als Hörbuch gehört und fand es ziemlich überzeugend – dass es auch eine Antwort auf Deine Frage liefern könnte, fiel mir heute erst ein.

    Ich meine, damit auf Deine beiden Haupteinwände geantwortet zu haben:

    Der Umstand, dass Christen an der Entwicklung der Menschenrechte mitgewirkt haben, lässt m.E. nicht den Schluss zu, dass sie dies wegen des Christentums getan haben.

    Der Umstand, dass die Menschenrechte in Europa wurzeln, lässt nicht den Schluss zu, dass sie deshalb auch auf dem Christentum basieren.

    Vielmehr dürften Erfahrung und Vernunft die ausschlaggebenden Faktoren gewesen sein – diese Faktoren sind aber nicht religionsspezifisch.
    —–
    P.S.: Danke, dass Du einen neuen Kommentar gepostet und nicht auf „Antworten“ geklickt hast – die Spalten werden doch ziemlich schmal mit der Zeit…

  6. bundesbedenkentraeger sagt:

    „Lässt sich die freiheitlich-demokratische Grundordnung m.E. aus der Bibel bzw. dem christlichen Glauben nicht schlüssig ableiten. (Eher scheint mir das Gegenteil der Fall zu sein.)“

    INteressanter und wichtiger Gedanke. Ich denke aus der Bibel alleine, läßt sich wohl beides oder gar nichts ableiten. Die Bibel für sich ist ein langer, alter Text. Und jeder Text, vor allem wenn er alt ist und aus einer ganz anderen Kultur und Zeit stammt, bedarf der Interpretation. Man braucht ein Vorverständnis, sonst versteht man gar nichts. Ich denke, die eigentlichen Probleme liegen hier, bei den Vorverständnissen. Die Bibel bietet Texte, die von Mord und Totschlag triefen, gleichzeitig bieetet sie ach Texte, die von Feindesliebe sprechen, davon die andere Wange hinzuhalten und für den zu beten, der einem Böses tut. Ohne eine Deutung der Bibel, eine Methode, mit der man an sie herangeht und Aussagen aus ihr ableitet, kann man gar nichts ableiten. Weder eine Diktatur, noch einen freiheitlichen Staat.

    Wenn also nicht die Bibel, was dann? Ein Gedanke, noch unüberprüft: Eine bestimmte Art des Glaubens könnte iene Rolle gespielt haben bei der Entwicklung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Ich betone: könnte. Manchmal stelle ich Fragen, die ich tatsächlich ach als offene Fragen verstehe, um ergebnisoffen darüber zu reden.
    Es muß nicht einmal ein Alleinstellungsmerkmal im christlichen Glauben sein (schon wegen der vielen Überschneidungen mit dem Judentum), vielleicht ist es auch so, daß eine bestimmte Form des Glaubens historisch zufällig im Christentum zuerst oder am einflußreichsten auftrat.
    Es mag die Betonung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen sein, die an sich zumindest damals im Alten Orient schon eine krasse Neuerung war, wo die Menschen keine Ebenbilder Gottes waren, sondern lediglich Diener, abgesheen vielleicht höchstens vom König oder Pharao. Möglicherweise liegt hier ein Ursprung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung: Die Einsicht dahinein, daß alle Menschen gleich sind. Der Gedanke kommt mehrmals auch in der Bibel vor, wenn auch gegenläufige Gedanken aufkommen.

    Du fragst nach der Begründung für die Zeit, die es brachte bis zu unserer hetigen Staatsform. Und ja, ich habe keine Antwort. Ich interessiere mich aber ach dafür, wie Du es siehst, inwieweit die Staatsform auf die Aufklärung zurückgeht in einer Weise, die mit dem Christentum nichts zu tun hat. Denn in dem Fall müßte sie as antiken Quellen gewonnen sein, die vor dem christlichen Einfluß liegen. Dann stellt sich jedoch die Frage, warum die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht zu der Zeit schon existierte, in der die Quellen liegen. Denn sind die Quellen die Ursache, so hätte zu ihrer Zeit schon der Durchbruch kommen können. Sicher kam dann erst einmal das Christentum. Doch die Zeit der großen griechischen Philosophen lag Jahrhunderte vor Christi Geburt, und das Christentum hatte erst im 4. Jahrhundert politischen Einfluß im römischen Reich. Nicht aber darüber hinaus, doch waren griechische Einflüsse auch im Osten des römischen Reiches vorhanden, wo das Christentum bis heute nie zur politischen Macht wurde, die andere hätte unterdrücken können.

    Warum also die Dauer von der Missionierung Europas bis heute? Ich weiß die Antwort nicht, meine aber, es liegt an der Natur des Menschen. Wahrschienlich haben wir hier unterschiedliche Menschenbilder. Ich teile nicht die Auffassung der Aufklärung, daß der Mensch im Grunde gt ist und nr richtig unterrichtet werden muß. Ich gehe eher davon aus, daß der Mensch an sich bösartig ist, auch wenn er das nicht will und auch hier und da einmal Gutes tun kann. Ich denke daß diese Bösartigkeit, gekoppelt mit dem Willen zur Kontrolle über das eigene Leben und den Willen zum Fortkommen, oft auch ohne Rücksicht auf andere, einen Großteil dessen ausmacht, warum der Fortschritt zur heutigen freiheitlich-demokratischen Grundordnung ausmacht. Das könnte man sogar bei gänzlich unchristlicher oder unreligiöser Betrachtung der Sache sagen, denke ich. Für die Machthabenden ist ein freiheitlicher Staat nicht vorteilhaft, also stemmen sie sich mit aller Gewalt dagegen, man sieht es in Libyen. Freiheit muß im Zweifel blutig erkämpft werden, und wo Kirchenmänner an den Machthebeln sitzen, muß die Freiheit eben gegen diese erkämpft werden. Ich denke nicht, daß Gläubige bessere Menschen sind. Sie sind genauso bösartig wie alle anderen. Deshalb können sie auch genau so gut die Rolle des Tyrannen einnehmen.
    Ich denke daß dieser Kampf einen Grund bildet für die lange Zeit, ein anderer mag sein, daß sich das Denken erst in diese Richtung entwickeln mßte. Ich denke nicht, daß der Glaube an den christlichen Gott zwangsläufig auf die freiheitliche Demokratie hinausläuft, ich denke aber, daß die freiheitliche Demokratie (und die Freiheitlichkeit mehr als die Demokratie) eine gute Implementierung einiger Grundzüge des christlichen Glaubens darstellt (andere mögen das anders sehen).
    Was die Entwicklung des Denkens angeht sagte einer meiner Professoren einmal, daß der Atheisms notwendig in Westeuropa entstehen mußte, weil in der Westkirche die Scholastik aufkam. Durch das Denken, man könne das göttliche Mysterium vernünftig erklären, was zum Beispiel in der Transsubstantiationslehre auf Grundlage aristotelischen Denkens gemacht wird, war es nicht mehr weit z dem Denken, alles sei der menschlichen Vernunft zugänglich. Dies führte dann zum Atheismus, der sich nur auf die menschliche Vernunft stützt.
    Ich bin mir nicht sicher, inwieweit das haltbar ist, leider hatte ich bisher nicht die Zeit, das mal eingehend zu unterschen, ich glaube auch nicht, daß meine Stärke auf dem Gebiet liegt, meine Ergebnisse wären wohl leicht angreifbar. Trotz allem scheint mir eine gewisse Plausibilität darin zu liegen. Unnötig zu sagen, daß der Prof selbst griechisch-orthodox war…

    „Im Prinzip könnte man die Einflüsse auf diese Gesellschaften in zwei Kategorien unterteilen: „Christentum“ und „Zeitgeist“ – wobei „Christentum“ die spezifisch christlichen Einflüsse umfasst und „Zeitgeist“ diejenigen Einflüsse, denen alle Menschen ausgesetzt sind, unabhängig von ihrer Weltanschauung: z.B. (Religions-)Kriege, wissenschaftliche Erkenntnisse oder technische Errungenschaften.“

    Ich bin nicht sicher, inwieweit es möglich ist, das Christentum vom Zeitgeist zu trennen. Es scheint mir eher so zu sein, daß es sich einerseits um tatsächliche Einflüsse handelt (Krieg, Errungenschaften), andererseits m ein Deutungsmuster dieser Dinge (Christentum). Der Bibeltext würde hier zu den Einflüssen gehören, wie der Krieg und die neue Maschine. Man könnte die Einflüsse auch Data nennen, und das Detungsmuster Method, wenn man einen Vergleich aus dem IT Bereich bemühen will (vielleicht macht es das anschaulicher). Genauso könnte man ja heute den Bibeltext als Einfluß nehmen, der aber von einem Atheisten unter atheistischer Deutung verstanden wird. Es kommt da ja durchaus zu unterschieden, wie wir beide wissen 😉

    „Hier lassen sich übrigens die oben erwähnten vier Erkenntnisquellen der Methodisten klar zuordnen: nämlich Bibel und (christliche) Tradition dem Christentum, und Erfahrung und Vernunft dem „Zeitgeist“.“
    Nach meiner Einteilung wäre es dann so, daß derer drei Data, also Einflüsse wären und die Vernnft wäre die Method. Christen lehnen ja nicht die Vernunft ab, höchstens vielleicht bestimmte Vorannahmen, die vielleicht zu der Vernunft gerechnet werden, wie etwa ein bestimmtes Weltbild. Insofern müßte man über die Vernunft noch einmal sprechen und klären, was man genau damit meint: Data oder Method. Ansonsten müßte man klären, ob und inwieweit man bei gleicher Data nd Method z gleichen Ergebnissen kommt. Eine weitere Frage wäre dann unter mständen, ob der Unterschied zwischen Christen nd Atheisten in der Data liegt, oder in der Method. Ich denke, daß es zumindest bei der Data Unterschiede gibt, etwa in den Welt- und Menschenbildern, die ich darnter fassen würde. Da kann dann die Vernunft die gleiche sein, und man kommt doch zu verschiedenen Ergebnissen.

    „Und hier scheint mir doch recht offensichtlich zu sein, dass die entscheidenden Einflussgrößen der ethischen Entwicklung Erfahrung und Vernunft waren – und nicht Bibel und christliche Tradition“

    Na was ist denn die Bibel außer textgewordener Erfahrung? Oder wie ist es mit der Tradition? Ist eben alles Data. Es ist ja ach nicht so, daß die Erfahrung in der Zeit vor der Afklärung keine Rolle gespielt hätte (was dann wieder die Frage aufwirft, wieso es zur Aufklärung kam).

    „Und (ethische) Neuerungen dürften sich definitionsgemäß schwerlich aus der Tradition ableiten.“

    Hier wäre ich vorsichtig. Gerade, wenn sich ein Weg als schlecht erwiesen hat, greift man oft auf Althergebrachtes zurück. Das sind dann schon Neuerungen, die dann aber as der Tradition kommen. So greift die junge BRD auch auf ältere demokratische Traditionen zurück und bringt so gegenüber dem Nazireich ethische Neuerungen. Einiges ist auch gegenüber den alten Demokratien neu, wie etwa der deutlich geschwächte Präsident…

    „So, wie Du die Frage formulierst, gleicht sie allerdings einem „Argument from Ignorance“ (Argumentum ad ignorantiam) – dem Fehlschluss, dass die eigene Erklärung richtig sein müsse, weil man keine andere Erklärung kennt. (Und sich auch nicht vorstellen kann, dass es eine andere Erklärung geben könnte.)“

    Die Frage war durchaus offen gemeint, ich habe also nicht gemeint, mein Argument (ich hatte ja noch keins) sei richtig, sondern ich fragte nach Gegenargumenten. Es ist nicht so, daß ich mir keine andere Erklärungen vorstellen konnte, ich kannte keine und bin froh, nun durch Dich Neues kennengelernt zu haben. Danke.

    „Der Umstand, dass Christen an der Entwicklung der Menschenrechte mitgewirkt haben, lässt m.E. nicht den Schluss zu, dass sie dies wegen des Christentums getan haben.“

    Gleiches müßte aber dann auch für andere Gruppierungen gelten, was zur Frage führt: Weswegen haben Menschen überhaupt an der Entwicklung der Menschenrechte mitgewirkt? Wenn man jetzt Menschenbilder oder sowas ins Feld führt, dann führt das wieder zur jeweiligen Religion oder Weltanschauung, was wir ja abgelehnt haben.

    „Vielmehr dürften Erfahrung und Vernunft die ausschlaggebenden Faktoren gewesen sein – diese Faktoren sind aber nicht religionsspezifisch.“

    Beim ersten Teil geh ich mit Dir konform. Beim zweiten Teil bin ich nicht so sicher, denn zur Erfahrungswelt der Menschen gehörte eine doch sehr präsente christliche Prägung des Lebens und der Umwelt, und das muß nicht mal nur negativ gewesen sein (Gottesebenbildlichkeit und so ;)).

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