Religionseintrag auf der Lohnsteuerkarte ist und bleibt verfassungswidrig

21. Februar 2011

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einem noch nicht rechtskräftigen Urteil die deutsche Praxis bestätigt, der zufolge auf der Lohnsteuerkarte vermerkt wird, ob ein Arbeitnehmer Mitglied einer steuererhebenden Religionsgemeinschaft ist. (Siehe Pressemitteilung des EGMR.)

Dies führt dazu, dass man – entgegen der Bestimmung des Grundgesetzes (Art. 136 (3) WRV), dass niemand verpflichtet ist, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren – ausgerechnet seinem Arbeitgeber diese Information liefern muss.

Die Argumentation der fünf Richter (zwei der sieben Richter äußerten eine abweichende Meinung) ist meines Erachtens nicht haltbar. Eigentlich müsste für jeden einsehbar sein, dass die deutsche Praxis verfassungswidrig ist:

Menschenrechte vs. Kircheninteressen

In der Pressmitteilung heißt es zur Urteilsbegründung:

Im Einklang mit seiner jüngeren Rechtsprechung befand der Gerichtshof zunächst, dass die Verpflichtung Herrn Wasmuths, die Behörden über seine Nichtzugehörigkeit zu einer zur Erhebung der Kirchensteuer berechtigten Kirche oder Religionsgemeinschaft zu informieren, einen Eingriff in sein Recht darstellt, seine religiösen Überzeugungen nicht preiszugeben. Der Gerichtshof zeigte sich aber überzeugt, dass dieser Eingriff nach deutschem Recht gesetzlich vorgesehen war, wie die deutschen Gerichte übereinstimmend befunden hatten. Ferner verfolgte der Eingriff den legitimen Zweck, das Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften auf Erhebung der Kirchensteuer zu gewährleisten. Der Gerichtshof hatte folglich darüber zu befinden, ob der Eingriff im Hinblick auf diesen Zweck verhältnismäßig war. [Hervorhebung von mir.]

Ich wundere mich zunächst darüber, dass offenbar die Einschränkung von Menschenrechten schon aufgrund einfacher Interessen einer Organisation (nämlich der Kirche) zulässig sein soll. Ich hätte erwartet, dass Menschenrechte lediglich durch die Menschenrechte anderer eingeschränkt werden können. (Niemand wird unter der Berufung auf sein Menschenrecht anderen schaden dürfen, und die Gesellschaft hat natürlich das Recht, Verstöße z.B. durch Freiheitsentzug zu ahnden, was einen Eingriff in das Freiheitsrecht darstellt.)

Demgegenüber werden die Menschenrechte untergraben, wenn ein Staat wie Deutschland einfach per Gesetz konkurrierende „Rechte“ wie hier zugunsten der Kirchen erfinden kann. Was – es geht mir hierbei nur um das Prinzip – wenn der Gesetzgeber den Kirchen das Recht gäbe, Nichtmitglieder zu foltern, zu töten und ihren Besitz einzuziehen? (Abwegig, ich weiß – trotzdem war dies jahrhundertelang Praxis.) Menschenrechte sind doch aus ihrem Wesen heraus zunächst einmal Abwehrrechte, auch und gerade gegen den Staat, bzw. gegen die Mehrheit.

Von daher erscheint es mir bereits verfehlt, sich überhaupt auf eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit einzulassen, da es lediglich um ein den Menschenrechten nachgeordnetes Recht der Kirchen handelt, (in Deutschland) Steuern erheben zu dürfen.

„Beschränkter Informationswert“?

Das Gericht schreibt:

Der Gerichtshof zeigte sich überzeugt, dass die fragliche Eintragung auf der Lohnsteuerkarte, wie die deutsche Bundesregierung geltend gemacht hatte, nur einen beschränkten Informationswert hat, da sie dem Finanzamt lediglich Aufschluss darüber gibt, dass der Steuerzahler keiner der sechs Kirchen und Religionsgemeinschaften angehört, die in Bayern Kirchensteuer erheben können und dieses Recht tatsächlich ausüben.

Es ist zwar richtig, dass ein „fehlender“ Eintrag der Religionszugehörigkeit lediglich bedeutet, dass man keiner der steuererhebenden Religionsgemeinschaften angehört – der Arbeitgeber kann nicht erkennen, ob man Atheist, Agnostiker, Moslem, Buddhist oder Angehöriger einer Freikirche ist.

Darauf kommt es aber auch nicht an. Entscheidend ist, ob die enthaltene Information zur Diskriminierung verwendet werden kann.

Ich behaupte mal, dass Diskriminierung üblicherweise bedeutet, dass die Mehrheit Einzelne oder Minderheiten deshalb diskriminiert, wie diese Auffassungen vertreten, die von der Mehrheitsmeinung abweichen. (Für Minderheiten dürfte es schwer sein, zu diskriminieren, solange die Betroffenen von der Mehrheit akzeptiert werden.)

Und der Grund für die Diskriminierung dürfte in der Regel weniger in der konkreten Auffassung bestehen als vielmehr darin, dass sich die vertretene Auffassung von der Mehrheitsmeinung (zu sehr) unterscheidet. So wird z.B. bei aktuellen Fällen in islamischen Ländern – entgegen einer verbreiteten Darstellung – nicht der Übertritt speziell zum Christentum mit Strafe bedroht, sondern der Abfall vom Islam. Und in Deutschland müssen z.B. Beschäftigte in kirchlichen Einrichtungen bestimmten Religionsgemeinschaften angehören. Für eine Kündigung kommt es also gar nicht auf die Information an, welcher Religionsgemeinschaft man konkret angehört, sondern welcher nicht.

Und da es gerade die größten und wichtigsten – auch als Arbeitgeber – Kirchen sind, die in Deutschland Steuern erheben, ist die Angabe auf der Lohnsteuerkarte durchaus heikel.

„Keine Öffentliche Verwendung“

Die Lohnsteuerkarte wird normalerweise nicht öffentlich verwendet; sie erfüllt keinen Zweck außerhalb des Verhältnisses zwischen dem Steuerpflichtigen und seinem Arbeitgeber oder dem Finanzamt.

Das Gericht spielt hier darauf an, dass die „Öffentlichkeitswirkung“ des Eintrags auf der Lohnsteuerkarte weitaus geringer ist als z.B. der früher praktizierte Eintrag der Religionszugehörigkeit auf den Personalausweisen in Griechenland. Dass es weniger schlimm ist heißt aber nicht, dass es zulässig ist.

Wenn man eine Rangfolge von Leuten und Organisationen aufstellen würde, denen gegenüber das Recht, über seine Religionszugehörigkeit zu schweigen, besonders wichtig ist, dann würde der Arbeitgeber sicher ganz weit oben rangieren. Der EGMR ist offenbar der Auffassung, dass ich mich zwar gegenüber meinem Sitznachbar im Bus nicht weltanschaulich offenbaren muss, dem Arbeitgeber gegenüber aber schon.

Wie schon oben beim Informationsgehalt scheint das Gericht auch hier zu argumentieren „Es könnte schlimmer sein.“ – Das kann aber kein Kriterium sein! Wie jemand andernorts bemerkte: Wenn jemand sagt, er schlägt seine Kinder nur noch einmal die Woche statt jeden Tag – ist das dann in Ordnung?

Verfassungsmäßig?

Der Gerichtshof zeigte sich aber überzeugt, dass dieser Eingriff nach deutschem Recht gesetzlich vorgesehen war, wie die deutschen Gerichte übereinstimmend befunden hatten. Ferner verfolgte der Eingriff den legitimen Zweck, das Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften auf Erhebung der Kirchensteuer zu gewährleisten.

Diese Darstellung des Gerichts ist schlichtweg falsch.

Das Gericht scheint zu übersehen, dass das deutsche Grundgesetz in Art. 136 (3) WRV ausdrücklich bestimmt:

Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur soweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert.

Man muss also seine Religionszugehörigkeit, wenn überhaupt, nur den Behörden gegenüber offenbaren.

Es wäre übrigens Wortklauberei, wenn man behaupten wollte, der Eintrag auf der Lohnsteuerkarte offenbare die religiöse Überzeugung nicht, weil ja zumindest bei denjenigen, die nicht Mitglied einer steuererhebenden Kirche sind, eben lediglich die Nichtmitgliedschaft dokumentiert wird und nicht die eigentliche religiöse Überzeugung. Der Eintrag auf der Lohnsteuerkarte widerspricht erkennbar dem Sinn der Verfassungsvorschrift.

Das Besteuerungsrecht der Kirchen

Man mag einwenden, das Grundgesetz gebe den Kirchen aber doch ebenfalls das Recht, Steuern zu erheben. In Art. 137 (6) WRV heißt es:

Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben.

Leider ist den meisten Leuten nicht klar, dass dies keine Rechtfertigung der jetzigen Praxis darstellt, sondern ein System meint, in dem die steuererhebenden Kirchen – verfassungskonform – von den Finanzämtern die Steuerlisten für ihre eigenen Mitglieder erhalten, um diesen „Kirchensteuerbescheide“ zu schicken. So wurde es früher gehandhabt, erst unter den Nationalsozialisten wurde 1935 die jetzige, verfassungswidrige Praxis – Abführung der Kirchensteuer durch den Arbeitgeber – eingeführt. Dies wurde auch nach dem Krieg so beibehalten. (Dank an Carsten Frerk, der in seinem Violettbuch Kirchenfinanzierung darauf hinweist. – Textauszug weiter unten.)

Nazi-Praxis wurde beibehalten

Das bedeutet, dass die jetzige Praxis, bei dem die Zugehörigkeit zu einer steuererhebenden Kirche auf der Lohnsteuerkarte vermerkt und die Kirchensteuer direkt vom Arbeitgeber einbehalten und abgeführt wird, nicht durch die Verfassung gedeckt ist. Und der bloße Umstand, dass das jetzige Verfahren „einfacher“ und für die Kirchen billiger ist, kann ja wohl kaum als Begründung für einen Verfassungsverstoß herhalten.

Die deutsche Praxis ist verfassungswidrig

Auch ohne die Einbeziehung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hätten eigentlich schon die deutschen Gerichte feststellen müssen, dass die jetzige Praxis ganz klar verfassungswidrig ist. Dass nicht einmal der EGMR dies zu erkennen vermag, ist bedauerlich – es bleibt zu hoffen, dass das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen ist.

Anhang

Das Urteil auf Französisch.

Das Urteil enthält auch die sehr aufschlussreiche abweichende Meinung.

Es lässt sich per Google Translate in einigermaßen brauchbares Englisch und in ziemlich unbrauchbares Deutsch übersetzen. Dazu muss man allerdings auf der Webseite den Text markieren und per Zwischenablage nach Google Translate kopieren.

Carsten Frerk: Violettbuch Kirchenfinanzen (Alibri Verlag)Carsten Frerk: Violettbuch Kirchenfinanzen, S. 25-26

Freie Kirche im Freien Staat

Mit der Weimarer Reichsverfassung 1919 wurde die Kirchensteuer im gesamten Nationalstaat eingeführt. Zweck war die finanzielle Absicherung der Kirchen, die mit der Weimarer Verfassung von der staatlichen Kirchenaufsicht (als „Staatskirche“) und damit auch der staatlichen Finanzierung befreit wurden („Freie Kirche“ im „Freien Staat“). Ihnen sollte eine sichere eigene Einnahmequelle geschaffen werden. Der Staat war ihnen nur insoweit behilflich, indem er sich verpflichtete, den Kirchen die staatlichen Steuerlisten zur Verfügung zu stellen, aus denen hervorging, wer Mitglied im Steuerverband Kirche war und wie viel Einkommensteuer er bezahlte. Eine weitere Verbindung oder gar „Partnerschaft“ war dabei nicht beabsichtigt. Ganz im Gegenteil war dies Bestandteil des Programms der kompletten finanziellen Trennung von Staat und Kirche.

Dass der Staat den Kirchen mit der Einführung der Kirchensteuer und den staatlichen Steuerlisten sehr großzügig zu einer neuen „Existenzgründung“ verhalf, wurde nicht als Widerspruch dazu gesehen.

Geplant und erhoben wurde diese nationale Kirchensteuer ursprünglich

(1) als Ortskirchensteuer (Empfänger waren die Kirchengemeinden),

(2) als vergangenheitsbezogen (erst nach Vorliegen der Steuerlisten konnten die Kirchen diese Steuer erheben) und

(3) ohne irgendeine weitere aktive Beteiligung des Staates oder gar der Arbeitgeber.

Alle drei Punkte konnten die Kirchen schließlich zu ihren Gunsten ändern und hatten – in historischer Kontinuität – keinerlei Skrupel, jedes politische System dafür zu nutzen.

Die Nationalsozialisten führten 1934 den Kirchensteuereinzug durch die Arbeitgeber (als „staatliche“ Aufgabe) ab dem 1.1.1935 ein. Und zwar im zeitlichen Zusammenhang mit dem Reichskonkordat vom 20.7.1933 und der Zustimmung zum ‘Ermächtigungsgesetz’ (23.3.1933), mit dem die diktatorische ‘Machtergreifung’ der Nationalsozialisten tatsächlich stattfand.

Damit war die Lohn-Kirchensteuer zur Gegenwartssteuer umgewandelt, die sofort mit der Lohnsteuer berechnet und abgeführt wurde. […]

Generell wurde zudem der automatische und damit höchst effiziente Einzug der Kirchensteuer durch die Finanzverwaltungen der Bundesländer vereinbart. Dieses staatliche Inkasso ist ein klarer Verstoß gegen das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche, was jedoch dem rheinischen Katholizismus der CDU in der Gründungsphase der Bundesrepublik offensichtlich egal war.

Gerhard Czermak: Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht, S. 191-193

Kirchensteuer III (Kirchenlohnsteuer)

[…]

V. Lohnsteuerkartenvermerk. Auf wie dünnem Eis die z.T. komplizierten Bemühungen der Rechtsprechung zur Rechtfertigung des derzeitigen Kirchensteuersystems stattfinden, zeigt besonders deutlich das Problem des Vermerks der (fehlenden) Religionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte. Art. 136 III l WRV/ 140 GG sagt klipp und klar: „Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Oberzeugung zu offenbaren.“ Zwar gilt eine Ausnahme vom Schweigerecht für ein Fragerecht der Behörde. Es betrifft den Fall, dass von der Kenntnis Rechte oder Pflichten abhängen. Doch muss dabei selbstverständlich Art. 4 GG beachtet sein. Im übrigen ist in Art. 136 III l WRV von der Zulässigkeit einer Weitergabe an Dritte (hier: Arbeitgeber) nicht die Rede. Das BVerfG hat das Problem („im Zweifel für die Kirche“) 1978 so „gelöst“: Das Kirchenlohnsteuerverfahren ist verfassungsgemäß (siehe oben). Es erfordert aus „Zweckmäßigkeitsgründen“ einen Vermerk über die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit eines Arbeitnehmers zu einer steuerberechtigten Religionsgemeinschaft. Aus diesem Grund ist eine Grundrechtsverletzung „noch nicht“ anzunehmen. Das nach Auffassung des BVerfG schrankenlose Grundrecht des Art. 41, II GG (dessen Teilaspekt Art. 136 III l WRV ja ist), wird also entgegen dem klaren Wortlaut der Verfassung aus bloßen Zweckmäßigkeitsgründen eingeschränkt: ein verfassungsrechtlicher Abgrund (BVerfGE 49, 375). Denn eine Besteuerung von Kirchenmitgliedern ist auch ohne Lohnsteuerkartenvermerk jedenfalls möglich, also nicht verfassungsrechtlich „erforderlich“. Eingehend wie hier neben Schiller/Wasmuth auch der bekannte Staatskirchenrechtler Korioth in: Maunz/Dürig, GG, Komm. zu Art. 140 GG, S. 124-126 (Rn 92).


Kreuze in Gerichtssälen: Theologen vs. Juristen

26. Februar 2010

Für die evangelische und die katholische Kirche in Rheine haben Hans Werner Schneider, Superintendent des Ev. Kirchenkreises Tecklenburg, und Dr. Ludger Kaulig, Dechant des Dekanates Rheine, eine Stellungnahme zu Kreuzen in Gerichtssälen veröffentlicht.

Darin behaupten Sie:

Das Kreuz kann dabei darauf hinweisen, dass die Würde der Person zu achten ist und Verpflichtung zur Wahrheit und Achtung der Würde der Person in der Anwendung der Gesetze auch in der Rechtsprechung zum Zuge kommt. Insofern steht das Symbol des Kreuzes nicht im Gegensatz zu den Grundprinzipien der Rechtsprechung und dem Auftrag der Gerichte im demokratischen Rechtsstaat. [Hervorhebung von mir.]

Diese Auffassung wird z.B. von dem bekannten ehem. Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde und anderen abgelehnt. Ich zitiere aus dem Standardwerk „Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht“ (Artikel „Kreuz in Amtsräumen“) von Dr. Gerhard Czermak, selbst langjähriger Verwaltungsrichter:

Der prominente Katholik und langjährige Richter des BVerfG Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das in einer 1975 veröffentlichten Abhandlung […] eindrucksvoll dargestellt: Die Rechtspflege ist eine Kernfunktion des Staats. Die Ausstattung der Gerichtssäle hat daher „die Funktion, die staatliche Rechtspflege als die unparteiische, nur Gesetz und Recht verpflichtete, von sachfremden Einflüssen und Einwirkungen unabhängige, die sie nach ihrem Amtsauftrag ist bzw. sein soll, sichtbar zu machen.“ Die Rechtsprechung als Ausdruck der unmittelbar hoheitlichen Staatstätigkeit erfordere distanzierende Neutralität, wozu das Kreuzsymbol im Widerspruch stehe. Es könne nicht den religiös-weltanschaulich neutralen Staat repräsentieren. Da davon auszugehen ist, so Böckenförde, dass die Anbringung von Kreuzen keinen Einfluss auf die Rechtsprechung hat und haben darf, ist der Sinn einer solchen Ausstattung nicht einmal für Christen einzusehen, sie sei nur „leere Form“, „Hervorbringung eines Scheins“. Der Wunsch, einen Eid vor einem Kreuz zu leisten, lässt sich auch ohne Dauerausstattung der Gerichtssäle mit diesem Symbol erfüllen. Eine derartige Ausstattung ist daher als solche „objektiv verfassungswidrig“. Diese Auffassung wird heute von zahlreichen, überwiegend christlich orientierten, Rechtsgelehrten auch offen ausgesprochen, z. T. sogar von harten Gegnern der Schulkreuz-Entscheidung (wie hier im Erg. z. B. A. Debus; M.-E. Geis, S. Huster; S. Korioth, G. Manssen, M. Morlok, S. Muckel, R. Röger, K. Schlaich, L. Renck u. a.).  [Fette Hervorhebung von mir, kursiv im Original.]

Demzufolge erklärte auch die Neue Richtervereinigung (NRV) Nordrhein-Westfalen am 18. Februar in einer Presseerklärung zum Düsseldorfer „Kruzifix-Streit“:

Die Neue Richtervereinigung (NRV) Nordrhein-Westfalen ist über den Düsseldorfer „Kruzifix-Streit“ erstaunt. Die Kritik daran, dass der Landgerichtspräsident in Düsseldorf anlässlich des Umzugs in das neue Gerichtsgebäude nicht erneut Kreuze oder Kruzifixe anbringen lässt, sei nicht nachvollziehbar.

Die NRV weist auf die eindeutige Rechtslage hin. Das Grundgesetz verpflichte den Staat zur Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen und gegenüber einem Nicht-Bekenntnis. Durch die Anbringung religiöser Symbole in staatlichen Einrichtungen stelle der Staat seine Bereitschaft zur Einhaltung dieser Neutralität in Frage. Das Bundesverfassungsgericht habe dies in seinem Urteil vom 16. Mai 1995 (1 BvR 1087/91, „Kruzifix-Urteil“ zur Anbringung religiöser Symbole in staatlichen Schulen), seinem Beschluss vom 24. September 2003 (zu einer Kopftuch tragenden Lehramtsbewerberin) und bereits lange zuvor, mit Beschluss vom 17. Juli 1973, 1 BvR 308/69, festgestellt, wonach die Ausstattung eines Gerichtssaals mit einem Kreuz das Grundrecht eines Prozessbeteiligten aus Art. 4 Abs. 1 GG (in Gestalt der negativen Religionsfreiheit) verletzen könne. Schauplatz des letztgenannten Falls sei damals das Verwaltungsgericht Düsseldorf gewesen. In Vollzug der Verfassungsgerichtsentscheidung seien damals, vor nunmehr fast 37 Jahren, in der nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichtsbarkeit – soweit vorhanden – sämtliche Kreuze und Kruzifixe entfernt worden.

Schon von daher sei es unerklärlich, dass die rechtlich gebotene Entscheidung des Gerichtspräsidenten heute überhaupt Aufsehen erregen könne. Genauso unerklärlich sei unter Anlegung rechtsstaatlicher Grundsätze die Verlautbarung des nordrhein-westfälischen Justizministeriums, das Vorhandensein von Kreuzen in Gerichtssälen beruhe auf einer „überlieferten Übung“. [Hervorhebungen von mir.]


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