In einer Meldung der österreichischen katholischen Nachrichtenagentur Kathpress wurde offensichtlich versucht, das Opfer dutzender Missbräuche durch einen Pater aus der österreichischen Zisterzienserabtei Wettingen-Mehrerau als unkooperativ und uneinsichtig darzustellen und gleichzeitig durch irreführende Formulierungen den ehemaligen Abt zu entlasten. Nachdem die Abtei drei Jahre lang untätig geblieben war, hatte das Opfer schließlich selbst eine Kirchenrechtsklage bei der Glaubenskongregation in Rom eingeleitet. Kathpress hat die Meldung mittlerweile zurückgezogen.
Anmerkung: Zu den damaligen Zuständen in der Mehrerau siehe auch den SPIEGEL-Artikel vom 03.03.2010: „Kindheit in der Klosterschule: Hölle, lebenslang“.
Nach Strafanzeige jetzt auch Kirchenrechtsklage
Das Opfer in dem Missbrauchsfall, in dessen Zusammenhang auch gegen den Freiburger Erzbischof Zollitsch ermittelt wird, hat jetzt beim Vatikan eine Kirchenrechtsklage gegen den geständigen pädokriminellen Pater Gregor Müller, die Zisterzienserabtei Wettingen-Mehrerau, vertreten durch ihren ehemaligen Abt Kassian Lauterer, und Erzbischof Dr. Robert Zollitsch eingereicht.
Es handelt sich um das Opfer, das 2006 die Abtei Mehrerau und das Erzbistum Freiburg auf den pädokriminellen Pater hinwies. Der Täter war daraufhin geständig.
Im Kirchenrecht heißt es in Bezug auf „die von einem Kleriker begangene Straftat gegen das sechste Gebot des Dekalogs mit einem noch nicht 18jährigen minderjährigen Menschen“ (sexueller Missbrauch):
Wenn ein Bischof oder Hierarch auch nur vage Kenntnis von einer derartigen Straftat hat, muss er sie nach abgeschlossener Voruntersuchung an die Glaubenskongregation weitermelden, die, wenn sie nicht wegen besonderer Umstände den Fall an sich zieht, durch Weitergabe der entsprechenden Vorschriften dem Bischof beziehungsweise Hierarchen gebietet, durch sein je eigenes Gericht das weitere Verfahren führen zu lassen; […]
Die Abtei Wettingen-Mehrerau und die Erzdiözese Freiburg hatten drei Jahre lang mehr als nur „vage Kenntnis“ von dem Fall. Beim Bistum Basel waren Übergriffe des Paters seit 1971 aktenkundig. Im März 2010 räumte der Pater weitere Missbräuche ein.
Drei Jahre untätig: Die Abtei Mehrerau und das Erzbistum Freiburg
Noch im März 2010 – mehr als drei Jahre nach dem Hinweis des Opfers Ende 2006 – wusste man beim Bistum Freiburg noch nicht einmal, wann der betreffende Pater im Bereich des Bistums eingesetzt war. Das hinderte das Ordinariat Freiburg allerdings nicht daran, dem Opfer gegenüber mehrfach zu erklären, der Pater seit nach 1968 nie wieder im Erzbistum Freiburg oder auch nur in Deutschland tätig gewesen – obwohl der Pater von 1987 bis 1992 erneut in Birnau eingesetzt war, wo er zwischen 1966 und 1968 bereits mehrere Messdiener missbraucht hatte.
Zeitgleich erklärte der Generalvikar der Erzdiözese Freiburg, Dr. Fridolin Keck, man habe dem Opfer 2006 Hilfen angeboten, es habe die vom Opfer verlangte Aussprache mit dem Täter gegeben, und es sei damals auf „Wunsch des Opfers“ nicht die Staatsanwaltschaft informiert worden. (Längere Fassung von Dr. Kecks Erklärung bei YouTube.) Das Opfer bestreitet all dies.
Der Abt lenkt ab
Nachdem das Opfer im Mai Strafanzeige gestellt hatte – nicht zuletzt, um die Verjährung möglicher weiterer Straftaten zu verhindern – erweckte das Erzbistum Freiburg mit dem Hinweis auf den Status der Abtei Wettingen-Mehrerau als „Territorialabtei“ den Eindruck, die Taten hätten gar nicht im Bereich der Erzdiözese Freiburg stattgefunden – offenbar um die eigene Untätigkeit zu rechtfertigen. Tatsächlich fanden die Missbräuche in der Pfarrkuratie (heute: Seelsorgeeinheit) Birnau des Erzbistums Freiburg statt, deren Pfarrkirche die Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt in Birnau ist. Die Zisterziensermönche der Abtei Wettingen-Mehrerau dort sind im Auftrag des Bistums Freiburg für die Seelsorge an den Katholiken in den umliegenden Orten Nußdorf und Deisendorf tätig.
Unterstützt wurde das Bistum Freiburg bei seinem Ablenkmanöver durch den neuen Abt von Wettingen-Mehrerau, Anselm van der Linde. Dieser ist zwar erst seit einem Jahr Abt, meinte aber beurteilen zu können, „dass Erzbischof Zollitsch mit Entscheidungen und Vorgängen im Priorat Birnau ‚sicher nichts zu hatte!‘“ (Als Pater Gregor Müller Ende der 60er Jahre in Birnau und Mehrerau Kinder sexuell missbrauchte, war Pater Anselm (Jahrgang 1970) noch gar nicht geboren. Als der Täter das zweite Mal in Birnau war (1987-1992), war Anselm noch nicht Zisterzienser.)
Immerhin erklärte Abt Anselm im Juni 2010 – drei Jahre nach dem Hinweis 2006 und knapp drei Monate, nachdem der Täter einzig auf Betreiben des Opfers schließlich seinen Rücktritt eingereicht hatte – er müsse „mit großem Bedauern zur Kenntnis nehmen“, dass „auch in unserer [Kloster-] Gemeinschaft in der Vergangenheit leider ein nicht adäquater Umgang mit Tätern und Opfern sexuellen Missbrauchs gepflegt wurde“. Diese Erklärung wurde vermutlich von der Beratungsfirma für Krisenkommunikation preventK mit verfasst, an die seit dem 19.03.2010 auch alle Medienanfragen zu richten sind.
Altabt Kassian Lauterer deckte pädokriminellen Pater über 40 Jahre
Nun muss man wissen, dass der Vorgänger von Abt Anselm dieses Amt über 40 Jahre lang innehatte: von August 1968 bis Januar 2009 war Kassian Lauterer der Abt von Mehrerau. Sein Amtsantritt deckt sich zeitlich fast mit der Rückversetzung des pädokriminellen Paters von Birnau nach Mehrerau im August 1968. In Mehrerau wurde der Pater sofort wieder übergriffig, so dass er noch im Dezember des selben Jahres in ein Trappistenkloster im Elsass strafversetzt wurde – unter Abt Kassian.
1971 wurde der pädokriminelle Pater ins Bistum Basel versetzt, wo seine Übergriffe aktenkundig waren und sein Einsatz „in Absprache mit dem Ordensvorgesetzten“ nur unter Auflagen erlaubt wurde. Trotzdem haben sich mittlerweile auch Missbrauchsopfer aus dem Bistum Basel gemeldet.
2006 wandte sich ein Opfer aus Birnau an die Abtei und das Bistum Freiburg. Der Freiburger Generalvikar Dr. Keck erklärte dazu:
Wir haben 2006 sofort den zuständigen Abt im Kloster Mehrerau verständigt – mit der Aufforderung, die erforderlichen Schritte einzuleiten. Der Abt hat uns zugesichert, dies zu tun und sofort auch das Bistum Chur verständigen. Dieser Zusicherung haben wir vertraut.
Der Abt, von dem Generalvikar Dr. Keck spricht, ist Abt Kassian Lauterer. Im Bistum Chur will man allerdings erst im März 2010 von den Vorwürfen gegen den Pater erfahren haben, bis dahin war er weiterhin unbehelligt dort tätig – auch mit Kindern und Jugendlichen.
Die Amtszeit von Abt Kassian Lauterer begann 1968 praktisch mit den Übergriffen, wegen denen Pater Gregor strafversetzt wurde, und endete damit, dass er trotz seiner Zusage Ende 2006 den pädokriminellen Pater noch zwei Jahre lang unbehelligt mit Kindern und Jugendlichen arbeiten ließ. Auch die kirchenrechtliche Untersuchung, zu der Abt Kassian verpflichtet gewesen wäre, ließ er unterbleiben.
Das ist also das, was der neue Abt Anselm van der Linde noch vor drei Wochen als „nicht adäquaten Umgang mit Tätern und Opfern sexuellen Missbrauchs“ bezeichnete.
Kathpress-Meldung: „Altabt Lauterer trifft keine Mitschuld“
Anlässlich der Kirchenrechtsklage, die das Opfer erhoben hat, meldete Kathpress jetzt allerdings:
Zudem treffe Altabt Lauterer keine Mitschuld, da er im betreffenden Zeitraum noch gar nicht Abt der Mehrerau war. Dieses Faktum sei indes trotz mehrmaliger Hinweise vom nun klagenden Opfer nicht zur Kenntnis genommen worden, […].
Diese Perfidie muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Nachdem die Abtei über drei Jahre lang untätig war – größtenteils unter Abt Kassian Lauterer, der den pädokriminellen Pater über Jahrzehnte hinweg gedeckt hat und dadurch weitere Übergriffe in Basel ermöglichte, aber auch noch ein Jahr unter Abt Anselm van der Linde – stellt Kathpress das Opfer, das den Pater praktisch im Alleingang zum Rücktritt zwingen musste, als uneinsichtig dar. Unklar ist momentan, ob Kathpress diese Darstellung aus Mehrerau erhalten oder selbst „verzapft“ hat: Aus Mehrerau heißt es nämlich nur, „dass Aussagen von Abt Anselm missverständlich oder falsch wiedergegeben wurden bzw. Aussagen, die er nie getätigt hat ihm zugeschrieben wurden“ – bloß, welche Aussagen er nicht getätigt hat und welche missverständlich oder falsch wiedergegeben wurden, oder was er überhaupt gesagt hat – das hat Mehrerau bisher nicht verlauten lassen.
Der Verfasser der Formulierung dürfte sich aber sehr wohl im Klaren darüber gewesen sein, dass Abt Kassian von der Pädokriminalität des Paters gewusst haben muss und untätig blieb. Kassian Lauterer war zwar noch nicht Abt, als die Missbräuche in Birnau passierten. Kassian Lauterer war aber Abt, als die Missbräuche in Mehrerau stattfanden, er war Abt, als der Pater deshalb strafversetzt wurde, er war Abt, als der Pater beim Bistum Basel wegen seiner Pädokriminalität nur unter Auflagen eingestellt wurde, und Kassian Lauterer war der Abt, der entgegen seiner Zusage den Pater jahrelang unbehelligt in der Schweiz hat weiter mit Kindern und Jugendlichen arbeiten lassen. Und die Kirchenrechtsklage bezieht sich auf die gesamte Zeit und nicht nur auf die Zeit vor August 1968, als Kassian Lauterer Abt von Mehrerau wurde.
Dank der Kathpress-Meldung muss der Titel des eingangs erwähnten SPIEGEL-Artikels für das dermaßen verleumdete Missbrauchsopfer auch heute wieder Realität geworden sein: Hölle, lebenslang.
Abt Anselms „Begründung“, Altabt Kassian treffe keine Mitschuld, da er, als dieses konkrete Opfer missbraucht wurde, noch nicht Abt war, macht einmal mehr deutlich, wie aufmerksam man bei kirchlichen Dementis sein muss.
Siehe dazu auch meinen Artikel Ermittlungen gegen Zollitsch: Erzbistum bestreitet Vorwürfe nicht.
[…] nicht zur Kenntnis genommen, dass Altabt Kassian Lauterer keine Mitschuld treffe. (Mehr dazu hier.) Die Behauptung, das Opfer sei „auf keines der Angebote“ eingegangen, trifft meines […]
Saubere Arbeit! Hoffentlich wird diese Recherche auch von den größeren Medien aufgegriffen.
[…] nur dreist, etwas bleibt immer hängen“ In den letzten Tagen hatte ich über eine diffamierende Pressemeldung berichtet und darüber, dass diese Meldung zunächst geändert, dann zurückgezogen […]
Na super und sowas darf dann überhaupt noch Abt werden, wenn er schon so eine Vorgeschichte hat. Naja er wird gedacht haben, weiß eh keiner. Ansonsten wäre er sicher nicht Abt geworden. Oder? lg Hp
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Kirche vieles darf, solange dies zu ihrem Vorteil ist.
Wie kann es denn sein, dass ein Pater, dessen Neigungen seit 1971 bekannt sind eine derartige Position einnehmen darf? Da fängt das Ganze doch schon an. ^^
„Schön“ wies sich die Kirche richten, nicht wahr…
Wer von den Kopfnickern hat mehr als diesen Blog gelesen?
Ich beispielsweise.
Er trage keine Mitschuld, weil er zu diesem Zeitpunkt noch nicht Abt war? Und daher ist nun alles vergeben und vergessen? Man beginnt einfach ab seinem Amtsantritt und die Opfer haben „Pech gehabt“? Das ist doch wohl der übelste Zynismus, der mir je zu Ohren gekommen ist!
Was mich am meisten empört ist die unwissenheit, die permanent vom klerus vorgeschoben wird. nie hat einer etwas gesehen, etwas gehört oder war gar anwesend. ich möchte nicht wissen wie viele einfach die türe hinter sich zugemacht haben.
Ist doch normal. Man wartet auf den Wechsel und dann ist alles vergeben und vergessen – unter den Teppich gekehrt sozusagen. Ein Neuanfang ist nicht immer etwas Positives, das sollte man vielleicht auch mal in der Kirche deponieren!
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Sepp