Beim Thema „sexueller Missbrauch“ werden Kirchenvertreter nicht müde zu beteuern, dass es ihnen um „Aufklärung“ und „Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden“ ginge. Bei genauerem Hinsehen kommen derartige Beteuerungen allerdings einem beherzten „Weiter so!“ gleich.
Seit Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Berliner Canisius-Kolleg Ende Januar werden die deutschen Bischöfe nicht müde zu beteuern, dass sie um „Aufklärung“ bemüht sind und „mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten“ wollen, und zwar „vorbehaltlos“. Einige Beispiele (Hervorhebungen von mir):
„Beide Seiten waren sich darin einig, dass es das vorrangige Ziel der katholischen Kirche und der staatlichen Stellen ist, in enger Kooperation miteinander und mit den Betroffenen alles zu tun, um eine umfassende Aufklärung der vergangenen Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch in den kirchlichen Einrichtungen entschlossen voranzutreiben. [… Die Opfer] haben ein Recht auf eine ehrliche Aufklärung.“ (Deutsche Bischofskonferenz, 15.04.2010)
„Die Kirche unterstützt die staatlichen Strafverfolgungsbehörden bei der Verfolgung sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche vorbehaltlos.“ (Deutsche Bischofskonferenz, 09.03.2010)
Der Eichstätter Bischof, Gregor Hanke, plädierte für eine „Aufklärung ohne wenn und aber“. (Erzbistum München, 06.03.2010)
„Wir wollen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zur Aufklärung beitragen“. (Sonderbeauftragter Bischof Ackermann, Bistum Trier, 26.02.2010)
Das erweckt beim unbefangenen Leser den Eindruck, die Bischöfe hätten den Ernst der Lage erkannt und würden jetzt entsprechend ernsthaft an einer Verbesserung der innerkirchlichen Vorschriften, insbesondere der Leitlinien zum Vorgehen bei Missbrauchsfällen arbeiten.
Kirchensprech hat Tradition
Tatsächlich dürfte allerdings nichts anderes gemeint sein als „Weitermachen wie bisher“. Wie kann das sein? Nun, die Katholische Kirche gebraucht gut klingende Wörter gerne in einem speziellen Sinn: So spricht man in der Katholischen Kirche z.B. gerne von „Wahrheit“, wenn die katholische Lehre gemeint ist. Die Behauptung „Außerhalb der Wahrheit oder gegen sie gibt es keine Freiheit“ (vgl. Enzyklika „Veritatis splendor“ von Papst Johannes Paul II., Ziffer 96) klingt halt für die meisten Menschen akzeptabler als „Außerhalb der katholischen Kirche oder gegen sie gibt es keine Freiheit.“ Oder auch folgende Aussage:
„[…] Außerhalb der Wahrheit ist Freiheit keine Freiheit. Sie ist Schein. Sie ist sogar Verknechtung.“ So argumentierte Papst Johannes Paul II. während seiner vierten Pastoralvisite in seiner Heimat, um den Primat der Wahrheit vor der Freiheit herauszustellen. (Rechtssystem und praktische Vernunft, S. 40, Hervorhebung von mir)
„Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft“
Vielleicht geht es ja nur mir so, aber wenn ich von Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden lese, dann würde ich erst einmal davon ausgehen, dass bei strafbarem Verhalten oder dem Verdacht darauf eine Meldung an die Staatsanwaltschaft erfolgt, damit diese der Sache nachgehen kann. Insbesondere bei einem Offizialdelikt wie Kindesmissbrauch.
Was die deutschen Bischöfe unter Zusammenarbeit verstehen, liest sich in ihren Leitlinien so:
I. ZUSTÄNDIGKEIT
1. Der Diözesanbischof beauftragt eine Person, die den Vorwurf sexuellen Missbrauchs Minderjähriger prüft.
Wer von sexuellem Missbrauch Kenntnis erhält, soll sich an die beauftragte Person wenden. Alle kirchlichen Mitarbeiter sind verpflichtet, Fälle, die ihnen zur Kenntnis gebracht werden, weiterzuleiten. Der Beauftragte recherchiert den Sachverhalt und ist Kontaktperson für die staatlichen Strafverfolgungsbehörden. [Hervorhebung von mir.]
Welcher Art ist nun der Kontakt zu den Strafverfolgungsbehörden? Dazu haben die Leitlinien einen eigenen Abschnitt:
IV. ZUSAMMENARBEIT MIT DEN STAATLICHEN STRAFVERFOLGUNGSBEHÖRDEN
7. In erwiesenen Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger wird dem Verdächtigten zur Selbstanzeige geraten und ggf. das Gespräch mit der Staatsanwaltschaft gesucht (vgl. I, 1).
In erwiesenen Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger wird dem Verdächtigten – falls nicht bereits eine Anzeige vorliegt oder Verjährung eingetreten ist – zur Selbstanzeige geraten und je nach Sachlage die Staatsanwaltschaft informiert. Kontaktperson für die staatlichen Strafverfolgungsbehörden ist der vom Bischof Beauftragte (vgl. Leitlinie I, 1). Wenn die Staatsanwaltschaft bereits aufgrund einer Anzeige recherchiert, wird mit ihr Verbindung aufgenommen. [Hervorhebung von mir.]
Dies ist die mittlerweile bekannte „missverständliche“ Regelung, derzufolge allenfalls dann die Strafverfolgungsbehörden zu informieren sind, wenn der sexuelle Missbrauch „erwiesen“ (d.h. nach kirchlicher Einschätzung; juristisch gilt eine Tat erst als erwiesen, wenn jemand dafür rechtskräftig verurteilt wurde, siehe DEUTSCHE POLIZEI, S. 18) und noch nicht verjährt ist – und der Täter dem „Rat“ zur Selbstanzeige nachkommt. Missverständlich ist hier höchstens, ob die Kirche bei erwiesenem, noch nicht verjährten Missbrauch „gegebenenfalls“ auch die Staatsanwaltschaft informiert, wenn der Täter dem Rat zur Selbstanzeige nicht nachkommt.
Kleiner Tipp am Rande für die Bischofskonferenz: Bei der Meldung von Verdachtsfällen sollte sofort geprüft werden, ob die Tat bereits verjährt ist und wenn nicht, wann sie verjährt. Damit die kirchliche Untersuchung nicht „aus Versehen“ zum Überschreiten der Verjährungsfrist führt.
Aufschlussreich ist aber auch der letzte Satz: Mit der Staatsanwaltschaft wird (nur dann) Kontakt aufgenommen, wenn sie ohnehin bereits recherchiert.
Dies zeigt, was die Bischöfe (die bayerischen Bischöfe seit diesem März ausgenommen) unter „Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden“ verstehen: Wenn die Staatsanwaltschaft ohnehin bereits ermittelt, dann (und nur dann?) wird mit ihr zusammengearbeitet. Dies wird besonders deutlich, wenn man den ersten und den zweiten Halbsatz vertauscht:
Mit der Staatsanwaltschaft wird Verbindung aufgenommen, wenn diese bereits aufgrund einer Anzeige recherchiert.
Mit anderen Worten: Es wird zwar mit den Strafverfolgungsbehörden zusammengearbeitet – aber nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt!
Das darf man wohl bis zum Beweis des Gegenteils so verstehen, dass die beteuerte Zusammenarbeit mit den Behörden sich nach dem Verständnis der Bischöfe auf Fälle beschränkt, in denen die Staatsanwaltschaft ohnehin bereits ermittelt. Oder anders ausgedrückt: „Wenn die Staatsanwaltschaft von sich aus auf uns zu kommt, dann wehren wir uns nicht.“ – Das sollte eigentlich selbstverständlich sein.
„Aufklärung“ auf katholisch
Aber wie können die Bischöfe sich zu „Aufklärung“ bekennen, wenn die Staatsanwaltschaft nur in „erwiesenen“ Fällen und „gegebenenfalls“ informiert wird?
Das kommt daher, dass die Bischöfe, wenn sie von „Aufklärung“ sprechen, innerkirchliche Aufklärung meinen. Aus kirchlicher Sicht werden die Fälle ja durch das in den Leitlinien beschriebene Verfahren, soweit das möglich ist, geklärt.
Somit können die Bischöfe unbeschwert „Aufklärung“ einfordern, gerne auch „vorbehaltlos“: Nach dem obigen Verständnis wird die Öffentlichkeit ja nur in Ausnahmefällen etwas davon mitbekommen.
Kirchensprech-Praxis
Ein treffliches Beispiel für Kirchensprech ist auch das folgende Statement des Pressesprechers der Deutschen Bischofskonferenz vom 9. März zum rechtlichen Vorgehen in Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche:
Die Kirche unterstützt die staatlichen Strafverfolgungsbehörden bei der Verfolgung sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche vorbehaltlos. Sie fordert Geistliche zu einer Selbstanzeige auf, wenn Anhaltspunkte für eine Tat vorliegen, und informiert von sich aus die Strafverfolgungsbehörden. Darauf wird nur unter außerordentlichen Umständen verzichtet, etwa wenn es dem ausdrücklichen Wunsch des Opfers entspricht. (Deutsche Bischofskonferenz, 09.03.2010)
Hier wird natürlich das Vorgehen gemäß der obigen Leitlinien beschrieben. Das heißt: Meldung an die Staatsanwaltschaft nur (bzw. höchstens) bei erwiesenem Missbrauch. Mal abgesehen davon, dass in der Erklärung des Pressesprechers mit „Anhaltspunkten für eine Tat“ offenbar das gemeint sein soll, was in den Leitlinien mit „erwiesenen Fällen“ (s.o.) bezeichnet wird: Der unbefangene Leser soll hier offenbar durch geschickte Formulierung den Eindruck gewinnen, die Kirche informiere „von sich aus die Strafverfolgungsbehörden“, „wenn Anhaltspunkte für eine Tat vorliegen“, und sehe nur „unter außerordentlichen Umständen“ davon ab, wenn dies nämlich „dem ausdrücklichen Wunsch des Opfers entspricht“.
Das kann aber nicht der Fall sein: Wenn nämlich die Kirche tatsächlich bereits bei „Anhaltspunkten“ die Staatsanwaltschaft informieren würde, dann wäre der Rat zur Selbstanzeige „in erwiesenen Fällen“ ja überflüssig – weil die Staatsanwaltschaft aufgrund der Meldung ohnehin bereits ermitteln müsste.
Bischofskonferenz: „Null Glaubwürdigkeit“ statt „Null Toleranz“
Wie viel Glauben soll man den deutschen Bischöfen schenken, dass sie den „missverständlichen“ Passus „präzisieren“ (Sonderbeauftragter Ackermann hier und hier) bzw. „klarer“ darstellen wollen (Deutsche Bischofskonferenz), wenn sie gleichzeitig die Missverständlichkeit eben dieser Formulierungen nach allen Regeln der Kunst (und ohne Scham) ausnutzen, um besser zu erscheinen als sie es tatsächlich verdienen? (Man erinnere sich auch daran, wie kirchlicherseits zunächst immer mit Hinweis auf die Leitlinien der Eindruck erweckt werden sollte, diese sähen eine Meldung an die Staatsanwaltschaft vor, sobald sich der Verdacht erhärte.)
Und welche Prioritäten legen die Bischöfe an den Tag, wenn das einzige Ergebnis, was nach zwei Monaten Überarbeitung der Leitlinien vorliegt, die Hervorhebung der Selbstverständlichkeit ist, „dass die Kirche keinen Rechtsraum losgelöst vom staatlichen Recht beansprucht”? (Deutsche Bischofskonferenz) Das klingt zwar auf den ersten Blick gut – bei genauerem Hinsehen ermöglicht dies aber ein Weitermachen wie bisher. Denn in Deutschland gibt es keine Meldepflicht für sexuellen Missbrauch. Das heißt: Selbst bei geständigen Tätern könnte die Kirche diese auch in Zukunft einfach in andere Gemeinden schicken und dort weiter einsetzen. Also ganz so, wie es bisher im In- und Ausland schon viel zu oft praktiziert wurde.
Verboten ist das nicht – „nur“ gefährlich.
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